Kuegler, Dietmar: Der amerikanische Eisenbahnbau (2)

Dietmar Kuegler 2018

Dietmar Kuegler wurde am 04. Juni 1951 in Dolberg geboren. Als Publizist und Verleger beschäftigte er sich vorwiegend mit nordamerikanischer Geschichte. Bis Ende 2022 gab er das Magazin für Amerikanistik heraus. Kuegler starb am 03. Dezember 2022 in Oevenum auf Föhr.

Kuegler, Dietmar: Chief Iron Tail – Der Lakota – Häuptling von Buffalo Bill´s Wild West – als Beitrag zu Der Weg in die Verbannung (Bärensöhne 3)

Das gesamte Leben wurde schneller. Industrielle Produkte verbreiteten sich in nie gekannter Menge und Geschwindigkeit und wurden dadurch billiger und erreichbar auch für die Bevölkerung mit niedrigem Einkommen.

Die Historiker Gary Cross und Rick Szostak stellten 2005 in ihrem Werk „Technology and American Society“ die These auf: „Mit der größeren Reisefreiheit entwickelte sich ein stärkerer Sinn für nationale Identität. Gleichzeitig reduzierte sich die regionale kulturelle Vielfalt. Die Kinder von Farmern konnten sich problemlos mit dem Leben in größeren Städten vertraut machen, und die Bevölkerung des Ostens konnte ohne weiteres die westlichen Gebiete besuchen. Die Vereinigten Staaten sind in ihrer kontinentalen Ausdehnung ohne die Eisenbahn kaum vorstellbar.“

Die Eisenbahn wurde zum boomenden Geschäft. Das rief auch Glücksritter auf den Plan. Schon in den 1840er Jahren gab es in Amerika Regionen, die ein Überangebot von Bahnstrecken aufzuweisen hatten. Spekulanten zogen von Ort zu Ort, warben für den Kauf von Aktien ihrer Bahngesellschaften, kratzten auf diese Weise Kapital zusammen und bauten Meile um Meile Schienenweg.

Die glänzenden Zukunftsvisionen, die sie ihren Kleinaktionären versprachen, gingen für die meisten nicht in Erfüllung, da sie schneller bankrott waren als ihre Gleislinien wuchsen. Die größeren Unternehmen brauchten nur darauf zu warten, die jeweilige Konkursmasse zu übernehmen.

Die Bahngesellschaften kooperierten zunächst auch nicht, sondern agierten als gnadenlose Konkurrenten, die nichts anderes zum Ziel hatten, ihre Rivalen auf und neben der Schiene wirtschaftlich zu zerstören. Es war ein regelrechter Krieg um jede Meile Schienenstrang, bei dem auch vor kriminellen Methoden nicht zurückgeschreckt wurde, wie der Zerstörung von Gleisanlagen und Lokomotiven der Konkurrenz. Das, was wir heute als Raubtierkapitalismus bezeichnen, zeigte beim Aufbau und Betrieb der ersten Bahnlinien in den USA sein hässliches Gesicht – und das sollte sich im gesamten 19. Jahrhundert fortsetzen.

Je größer die Bahngesellschaften wurden, je mehr ihr Einfluss auf die allgemeine Wirtschaft wuchs, weil mit der wachsenden Besiedelung des Landes die Versorgungslogistik mehr und mehr von ihnen abhängig wurde, desto mehr politische Macht fiel ihnen zu. Sie mochten untereinander einen erbitterten Konkurrenzkampf führen – wenn es um gesamtwirtschaftliche Vorteile ging, bildeten sie die mächtigste Lobby, die Amerika je gesehen hatte. Der Druck, den sie auf den Kongress und die Regierung ausübten, war enorm. Letztlich übten sie nicht nur Herrschaft über den Schienenverkehr aus, sondern kauften auch nach und nach alle anderen Logistiksparten auf – vom Frachtverkehr auf den Kanälen und Flüssen, bis zu Transportfirmen mit Kutschen und Wagen, der Kommunikationstechnik per Telegraf und über Anteile an Banken den Transferdienst für Geld.

Das erzeugte nach anfänglicher Begeisterung auch Erbitterung und Hass auf die Eisenbahnbarone. Es waren zunächst die Farmer, die anfänglich am meisten von dem neuen Transportmittel profitiert hatten, die sich zunehmend durch die immer bedrohlicher werdende Monopolstellung der Eisenbahn unterdrückt fühlten.

Schon in den 1870er Jahren entstand die sogenannte „Granger-Bewegung“, in der sich Farmer zusammenschlossen, um gegen die Abhängigkeit und die Preisdiktate der Eisenbahnen zu protestieren. Unterstützt wurden die Landwirte dabei von regionalen und lokalen Geschäftsleuten. Das führte zu den „Granger-Gesetzen“ in den Farmerstaaten im mittleren Westen, mit denen Preisobergrenzen für Eisenbahnfrachtraten festgelegt wurden. Besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine regelrechte Anti-Eisenbahn-Rhetorik im politischen Raum.

Aber trotz aller öffentlicher Kritik, wurde die Eisenbahn nirgends sonst auf der Welt mit solcher Selbstverständlichkeit angenommen wie in Amerika. Allerdings waren die USA in der frühen Phase des Bahnbaus vollständig von Importen aus England abhängig.

Die ersten amerikanischen Lokomotiven waren – wie erwähnt – 1830-31 gebaut worden. 1832 nahm die Eisenfabrik von Matthias Baldwin die Fertigung von Dampflokomotiven auf: Die „Old Ironside“ wurde sofort zur Sensation, als sie mit sechs angehängten Waggons mit 325 Passagieren einen Geschwindigkeitsrekord von 44,8 km/h aufstellte. „Baldwin“ sollte von da an zum Markenzeichen für die besten Lokomotiven Amerikas werden.

Noch im selben Jahr aber wurde der Geschwindigkeitsrekord auf einer Strecke von einer Meile von einer Lok aus der „West Point Foundry“ auf unglaubliche 128 kmh hochgeschraubt. 1832…

Im Jahr 1835, als die erste deutsche Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth rollte und als Gipfel des technischen Fortschritts gefeiert wurde; als deutsche Mediziner vor den Folgen unmenschlicher Geschwindigkeit für den geistigen Zustand der Menschheit warnten (bei ca. 35 kmh), gab es in den USA bereits fast 200 Eisenbahnlinien. Allein der Staat Pennsylvania verfügte über mehr als 600 km Gleisstrecke. 1837 wurden die ersten Schlafwagen eingesetzt. 1850 rollten Fracht- und Personenzüge auf fast 14.500 km Schienenweg, und 1860 war das Schienennetz der USA nicht mehr weit von 50.000 km entfernt.

Kleiner Einschub: Die erste Eisenbahnlinie in Schleswig-Holstein wurde vor genau 175 Jahren eröffnet, im September 1844 – das war die „Ostseebahn“ von Altona nach Kiel, stolze 105 km lang und 45 Stundenkilometer schnell.

Die Fertigung von Eisenbahnschienen gab es in diesem Stadium noch nicht in den USA. Nicht vor den 1840er Jahren begannen Fabriken in Maryland und Pennsylvania die T-förmigen Gleise herzustellen. Durch die Entdeckung hervorragender Eisenerzminen in der Region der Großen Seen, waren die amerikanischen Gleise aber bald von besserer Qualität als die britischen.

Stahlgleise wurden aber bis in die 1860er Jahre noch aus England importiert. Amerikanische Stahlgleise wurden nicht vor 1867 hergestellt. Sie kamen aus den Stahlwerken in Johnstown (Pennsylvania).

Was während fast des gesamten 19. Jahrhunderts zum Problem wurde waren die Spurbreiten. Während in England die Standardspurbreite bei ca. 1,40 m lag, operierten in den USA fast alle Eisenbahnlinien mit eigenen Spurbreiten – von ca. 1,20 bis 1,50 m. Der Hintergrund war reines Konkurrenzdenken. Statt miteinander zu kooperieren, waren die Passagiere gezwungen, bei längeren Reisen ständig die Züge (und die Bahngesellschaften) zu wechseln. Nur selten – wie etwa bei schwierigen Bergstrecken – hatte der Wechsel der Spurbreiten rationale Gründe.

Die Eisenbahn generierte neue Berufszweige, von denen einige bis dahin unbekannt waren. Neben den Schienenarbeitern gab es Lokführer, Schaffner, Bremser, Heizer, Stationsvorsteher, Stationsarbeiter, Frachtmanager, Lageristen, Landvermesser, spezielle Buchhalter und Marketingspezialisten für die Verpachtung und den Verkauf von Ländereien.

Für viele Stellungen gab es keine Ausbildung und keine Grundlagen, so dass die Kenntnisse dafür empirisch erworben werden mussten.

Bürgerkrieg

Bei Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkrieges im April 1861 wurde rasch erkennbar, dass die Eisenbahn zu einem entscheidenden militärischen Instrument werden würde.

Die meisten der amerikanischen Eisenbahnstrecken befanden sich in Gebieten, die von den Nordstaaten beherrscht wurden. Mehr noch, auch fast alle Industrien, die die Eisenbahn ausstatteten, befanden sich in der nördlichen Union. Die Südstaaten, die bis dahin nahezu vollständig von Zulieferungen aus dem Norden abhängig gewesen waren, sahen sich plötzlich von der gesamten industriellen Entwicklung abgeschnitten, und die anfangs verlachte, tatsächlich aber sehr effektive Seeblockade verhinderte entsprechende Lieferungen aus Europa. Größere Schienenverbindungen wurden sofort zum Ziel von Sabotageangriffen. Die meisten Eisenbahnanlagen in den alten Südstaaten waren regionale, wenn nicht nur lokale Verbindungen mit relativ kurzen Strecken. Die von den Südstaaten ständig betonten Einzelstaatsprivilegien verhinderten zudem, dass es von Beginn an Kooperationen gab. Erst 1863 stellte die konföderierte Regierung die Eisenbahnen faktisch unter die Kontrolle der Armee. Da befand sich der Süden schon auf dem Rückmarsch, wenn nicht gar im Verfall. Wichtige Strecken waren zerstört, ebenso wichtige Brücken, und andere Anlagen waren bereits unter der Kontrolle der Nordarmee.

Während die Nordstaaten die Eisenbahn immer effektiver als logistisches Element1 zum Truppen- und Nachschubtransport einsetzten, kollabierten die Transportmöglichkeiten der Südstaaten zunehmend. Die Technikfeindlichkeit der Südstaaten vor 1860, die systembedingt war, weil der Süden eine Ausbreitung der Industrie und die Ausbreitung des Kleinbauerntums verhindern wollte, rächte sich jetzt. Als Ulysses S. Grant zum Oberkommandierenden der Unionsarmee ernannt wurde, standen die Südstaaten einem militärischen Führer gegenüber, der nicht nur die bis dahin völlig neue Massenkriegsführung begriffen hatte, sondern die technischen Möglichkeiten von Telegraf und Eisenbahn geradezu virtuos nutzte. Während die Ressourcen der Südstaaten dahinschmolzen, sorgte die Eisenbahn für zügigen Transport immer neuer Verstärkungen der Feldtruppen und ununterbrochene Versorgung mit Ausrüstung und Verpflegung. Die Eisenbahn trug in erheblicher Weise zum Sieg des Nordens über den Süden bei.

Unionssoldaten (USMR) begutachten Wrackteile der Orange & Alexandria Railroad 2

Die unterentwickelte Infrastruktur in den Südstaaten veränderte sich erst nach Ende des Krieges, als die nordstaatliche Industrie sich in der ehemaligen Konföderation etablierte und umfassende Modernisierungen in die Wege leitete. Hier gab es in vielen Regionen noch nicht einmal ein Overland-Straßennetz, nur Feldwege. Innerhalb 20 Jahren wurden die vorhandenen Schienenanlagen im Süden verdreifacht.

Der Bürgerkrieg war zwar ein Druckmittel Kaliforniens gewesen, endlich die sichere Verkehrsanbindung an den Osten zu erhalten, er war allerdings anfangs auch ein Hemmschuh für den Bau der Transkontinentalbahn, da Menschen, Material und Kapital auf den Schlachtfeldern gebunden waren. Der eigentliche Bau setzte somit erst 1865 ein, als Kapazitäten verlagert werden konnten. Dann aber wurde die Konstruktion der Bahnlinie mit einem Elan vorangetrieben, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Die Eisenbahn wurde nun endgültig zum Bannerträger der sogenannten „Westward Expansion“.

Zwischen Omaha und Sacramento, den beiden Ausgangspunkten des Baus, betrug die Distanz rund 3.000 km – im Laufe der folgenden Jahre sollte sich diese Strecke als Hölle erweisen: wasserlose Steppen, glühende Wüsten, Berge, die bis zum Himmel zu reichen schienen, unüberwindliche Schluchten, reißende Ströme, ein mörderisches Klima, ständige Materialknappheit – und die Herren des Landes, die Indianer, die zunächst vom herangaloppierenden Dampfross beeindruckt waren, bald aber begriffen, dass es ihnen die Freiheit und den Lebensraum  raubte und die den Kampf dagegen aufnahmen.

Das Ende des Bürgerkrieges brachte der Union Pacific Zigtausende neuer Arbeitskräfte: Ehemalige Soldaten, die nach Westen zogen. Ganze Heerscharen von gebürtigen Iren machten sich als Schwellenleger unentbehrlich. Ex-Offiziere wurden als Vorarbeiter engagiert. Die Bauleitung der Union Pacific übernahm der ehemalige General und Ingenieur Grenville Dodge. Vorarbeiter wurde General Jack Casement, der schon in der Unionsarmee Militäreisenbahnen gebaut hatte. Schwedische und deutschstämmige Holzfäller schlugen das Schwellenholz.

Vergleichsweise hohe Löhne von 3 $ am Tag lockten, aber die Arbeit war mörderisch. Je tiefer der Schienenstrang sich in die Wildnis des Westens fraß, desto härter wurden die Arbeitsbedingungen, desto schärfer wurden die Schwellen- und Schienenlegerteams angetrieben. Menschenleben zählten für die Bahngesellschaften nicht mehr. 5.000 Arbeiter ebneten der Union Pacific den Weg, legten Schwellen und reihten Schienen aneinander.

Die Central Pacific griff auf Chinesen3 als Arbeitskräfte zurück. 10.000 von ihnen schufteten bis zum Zusammenbrechen für den Bau der großen amerikanischen Eisenbahn. Sie wurden in den Büchern der Bahngesellschaft als „Material“ geführt. Sie waren billiger zu ersetzen als Schienennägel. Ihre Opfer begründeten die Legende, dass für jede Schwelle der transkontinentalen Eisenbahn ein Arbeiter gestorben sei.

Szenenfoto Into The WestDas Eiserne Pferd 4

In der amerikanischen Umgangssprache wurden diese Männer „Gandy Dancers“ genannt – Gandys waren die ca. 1,50 m langen, mit Haken versehenen Eisenstangen, mit denen Schwellen und Schienen angehoben, platziert oder begradigt wurden. Die gleichförmigen und schnellen Bewegungsabläufe dafür erschienen Beobachtern wie eine Art Ballett; daher die Bezeichnung „Dancers“. Im Südwesten der USA nannte man diese Männer, die häufig aus Mexiko stammten, „Traqueros“.

Der Rekord chinesischer Schienenleger-mannschaften lag bei 16 km (10 Meilen) Strecke am Tag! Erschöpfung raffte die Männer dahin, Krankheiten, reißende Flüsse, zusammenbrechende Brückenkonstruktionen, unsachgemäße Sprengladungen, mit denen Wege durch die Berge getrieben wurden.

  • 1) 1862 wurden die United States Military Railroad (USMRR) gebildet- Erster Leiter General Daniel McCallum. Militärbahn – Wikipedia
  • 2) By Unknown author – http://www.historycentral.com/CivilWar/SecondManassas.html, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9521632
  • 3) In der sechsteiligen amerikanischen Miniserie INTO THE WEST wird in Teil 4 – Das Eiserne Pferd – auf die chinesischen und nativen Gleisarbeiter realistisch Bezug genommen
  • 4) Bildquelle In den Westen (2005) (imdb.com)

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