Liselotte Welskopf-Henrich, die Indianer und Uwe Rennicke (1)

Der Eisblock

Die Schwarzen Berge waren immer noch mit einer dicken Schneedecke überzogen. Nur an ihren Rändern begann sich der Schnee langsam zurückzuziehen. An einzelnen Flecken zeigte sich bereits das braune Präriegras des letzten Herbstes. In einem Tal, welches durch die dichten Wälder begrenzt wurde, stand ein Zeltdorf. Dreißig Tipis waren es nur, in denen einhundertfünfzig Menschen lebten. Auch diese, immer in der rauen Natur der Prärie lebenden Dakota warteten auf den Frühling, der ihnen neue frische Nahrung und Kleidung geben würde. Im harten Winter lebten sie nun einmal von gepökeltem Fleisch und getrockneten Beeren. Die Jäger brachten zwar auch Jagdbeute in das Dorf, meistens waren dies aber Kleintiere. Die Hundemeute des Dorfes war abgemagert und auch die Mustangs wiesen unter ihrem Winterfell keine dicke wärmende Fettschicht auf. Klein und zäh waren diese Pferde noch, die vor einigen hundert Jahren durch spanische Männer auf diesen Kontinent gebracht wurden, wo sie sich rasch vermehrten und auch verwilderten. Die Prärieindianer lernten erst später die Zucht und setzten sie auch als Transportmittel ein. Doch weiße Männer hatte nur einer der ältesten Männer bereits gesehen. Die kleine Indianergruppe fing die Pferde aus den verwilderten Herden. Im letzten Jahr, nachdem sie im Winter durch Wolfsrudel zu viele Pferde verloren hatten, bauten sie eine Koral. So konnten sie ihre kleine Herde wieder auffüllen.


In der ersten Morgenstunde des Tages trat ein Krieger in sein Zelt. Dieses war eines der größeren Tipis mit achtzehn Zeltstangen. Viele Gäste konnte er in diesem Zelt bewirten. Nach der ersten Büffeljagd würde eine solche Gelegenheit wieder kommen, denn Mattotaupa war ein sehr erfolgreicher Jäger. Ungewöhnlich groß und muskulös ragte er in der Mitte der Männer hervor, die Präriejäger waren eher schmal und sehnig. Vier Bären hatte er vor wenigen Sommern in einem Frühjahr erlegt, daher wurde Matto, der Bär, nun so genannt. Die Große Bärin war seine Ahnin und sie lebte der Legende nach immer noch in der Höhle über dem Tal in den Tse Sapa, den Schwarzen Bergen. Nun war er der Kriegshäuptling der Bärenbande. Im letzen Sommer hatte Mattotaupa nicht viele Kämpfe mit seinen Kriegen, den jungen Hirschen, zu bestehen gehabt. In solchen Zeiten führte die Dorfgemeinschaft der Friedenshäuptling Weißer Büffel an. Viel Freude aber war in sein Zelt gekommen. Neben seinem nun vierjährigen Sohn Harka und seiner erstgeborenen Tochter, daher der Name Uinonah, war ihm ein zweiter Junge geboren wurden. In diesem Winter aber entrann Harpstennah knapp dem Tod. Daher schuldete er Hawandtschita, dem Geheimnismann, Dank. Obwohl, die Pflege und die Kräuter von Untschida, seiner Mutter, waren bestimmt ebenso wichtig gewesen. Vor ihr hatte selbst der alte Medizinmann Achtung, denn sie galt als eine erfahrene weise Frau.


Am Abend vorher berieten die Männer im Ratstipi über den Zug des Dorfes in das Sommerlager. Das Pferdebachtal lag am südlichen Rand der Berge. Hier war ein guter Ausgangspunkt für die Büffeljagd des kommenden Frühjahrs. Hawandtschita legte am Ende der Beratung fest, dass die Büffeltänze in einigen Tagen beginnen sollten. Dann erzählte der Alte von seinen Jugenderlebnissen, selten hörten die Ratsmänner diese Geschichten. Vor über dreißig Sommern kämpfte er mit Tecumseh, dem Berglöwen der Shawnee, im Krieg der Rotröcke gegen die Blauröcke. Daher kannte er auch die hohe Zahl der in das Ostland strömenden Langmesser. Nach dem Tod des Häuptlings in der Schlacht kehrte er zu seinem Stamm zurück. Enttäuscht über die von Tecumseh nicht erreichte Einigkeit der Stämme gelangte Hawandtschita zu der Überzeugung, dass diese Einheit nicht erreicht werden konnte. Die Krieger der Bärenbande folgten ihm darin, waren die knappen Erzählungen doch die einzigen Berichte über die Watschitschun und ihre Mazawaken, Geheimniseisen, in Ländern wo die Sonne aufgeht.


Mattotaupas Blick ging zu seiner Frau, an ihrer Brust schlief der Kleine endlich wieder ruhig und tief atmend. Gleich daneben ruhte auch die vor zwei Sommern geborene Uinonah, an Untschida geschmiegt.


In drei Stunden würde Mattotaupa seinen Sohn wecken. Der Junge hatte den Vater darum gebeten. Es galt, dem älteren Freund einen Streich zu spielen. Tschetan, der Falke, war der Anführer des Knabenbundes, der jungen Hunde. Ein solcher wollte auch Harka unbedingt einmal werden. Der Knabenanführer brachte Harka schon eine Menge bei. Am liebsten setzte er den Jungen auf ein Pony, denn Indianerjungen lernten schon mit vier Jahren reiten. Der Häuptling musste leise lachen, als er an den gestrigen Morgen dachte.


In der fünften Morgenstunde schob sich nämlich der schlanke Knabenkörper Tschetans in das Tipi. Mattotaupa erkannte ihn sofort, blieb aber still und beobachtete das Geschehen. Tschetan riss plötzlich den vier Sommer und Winter jüngeren Freund aus den Fellen, warf ihn sich über die Schultern und verschwand wieder. Langsam setzte sich der Vater in Bewegung. Tschetan rannte zum Bach. Inzwischen trommelte der Kleine mit aller Kraft auf den Rücken des Freundes, was ihm aber nichts nützte. Am Bach angelangt, sprang Tschetan mit Harka in das eisige Wasser und tauchte den Jungen zweimal kurz unter. Harka machte in erstauntes Gesicht, aber jetzt zu schreien, fiel ihm nicht ein. Nein, er fing sofort an zu spritzen, als der Freund ihn nicht mehr fest hielt. Gleich darauf verließen die Jungen den Bach und Tschetan half dem Sohn des Häuptlings, sich mit Bärenfett einzureiben. Harka lief den Tag angestrengt nachdenkend zwischen den Tipis auf und ab. Doch dann hatte er eine Idee. Bevor der Vater das Zelt verließ, um zu der Beratung zu gehen, bat der Kleine ihn stumm, sprechen zu dürfen. Der Vater nickte und dann erzählte Harka, was er vor habe. Mattotaupa versprach ihm, bei seiner „Rache“ zu helfen. Bis dahin war noch etwas Zeit.


Der Junge wachte ein wenig vor der Zeit auf. Sein Vater hatte ihn seit einigen Augenblicken beobachtet. Nun freute er sich, dass der Vierjährige von allein aufwachte. Nicht jeder Junge in diesem Alter lernte so schnell. Die Kinder der Dakota, wurden nicht in die Zelte zum Schlafen geschickt. Sie merkten selbst, wenn die Zeit dazu gekommen war. Schnell wickelte sich der Häuptlingssohn aus den Fellen. Der Vater gab ihm eine Hand voll getrockneter Beeren. Nur Frauen und Kinder nahmen morgens etwas Nahrung zu sich. Dann verließen beide das Tipi. Sogleich bewegte sich der Junge, auf den Ballen auf das Tipi des Freundes seines Vaters, Sonnenregen, zu. Er musste feststellen, ob Tschetan noch im Zelt schlief. Der Vater zeigte ihm dabei noch einmal ohne zu sprechen, wie sich ein Dakota ohne Laut bewegt. Langsam lugte Harka in das Tipi. Er kannte den Schlafplatz und Tschetan lag auch noch auf seinem Lager. Harka bedeutete seinem Vater: Alles in Ordnung. Sofort wandten sich die beiden dem eiskalten schmalen Bach zu. Am Ufer fanden sie noch genügend dickes Eis. Für die nächste Aufgabe brauchte Harka die starke Hand des Vaters. Ein richtiger großer Block sollte leise aus dem Eis bebrochen werden. Das tat Mattotaupa und reichte Harka den Block des Eises. Sofort bewegten sie sich leise wieder in Richtung des Tipis. Der Eisblock war so groß, dass der Vater helfen musste. Langsam legten sie den Block vor dem Zelt ab. Was der Junge nicht wusste, Mattotaupa hatte seinen Jugendfreund Sonnenregen während der Beratung gestern Abend gebeten, um diese Zeit die Wachen der Mustangherde zu kontrollieren. Diese Aufgabe übernahmen, wenn keine Gefahr von feindlichen Stammesgruppen drohte, die Burschen. Vierzehn bis Sechzehnjährige, die sich auf der Jagd bereits bewährten und in den Bund der Roten Federn aufgenommen waren.


Nun half Mattotaupa seinem Sohn, die Plane am Eingang geräuschlos anzuheben. Harke spähte hinein und kroch ganz langsam und leise in das Tipi. Nun reichte der Vater ihm den Block. Den Rest musste der Junge schon allein erledigen. Vor dem Zelt trat Sonnenregen zu seinem Häuptling. Den nun folgenden Spaß wollten sich beide nicht entgehen lassen. Auch Sonnenregen hoffte, dass der kleine Harka die sich selbst gestellte Aufgabe lösen würde, ohne dass der Freund vorher erwachte. Denn das übten die Indianerknaben schon sehr zeitig. Deshalb spielten sie sich auch solche Streiche, die zeigten, wer am besten schleichen und spähen konnte oder die anderen zuerst bemerkte.


Der Eisblock war schwer. Trotzdem musste der Junge ihn zum Lager Tschetans tragen und durfte dabei kein Geräusch verursachen. Langsam und gleichmäßig atmend stand er nun über seinem Freund, der immer noch schlief. In den Zelten ist es auch im Winter nicht so bitter kalt, so dass die an die raue Natur gewöhnten Prärieindianer nicht viele Decken benötigten. Tschetan lag also mit freiem Oberkörper auf dem Rücken. Nun musste sich Harka etwas beeilen, der eisige Brocken war doch sehr schwer. Langsam legte er ihn auf Tschetans Brust ab.


Mit einem Schrei fuhr der Anführer der Jungen Hunde aus dem Schlaf. Sofort aber griff er sich den stehengebliebenen Häuptlingssohn und warf ihn auf die Felle am Boden. Er knuffte und stieß ihn derb in die Seiten, aber Harka wehrte sich mit Leibeskräften und gab dabei keinen Mucks von sich. Den Kampf konnte er noch nicht gewinnen. Tschetan war kurz außer sich: Was sollten die Knaben von ihm denken? Doch dann ließ er den jüngeren Gefährten los. Der Falke musste plötzlich an Gestern denken. Das war also die Rache für das Bad im Bach. Da fing er an zu lachen, auch die beiden Männer betraten jetzt das Zelt und lachten mit. Alle freuten sich über das Geschick des kleinen Häuptlingssohnes. Die Geschichte würden sich nun nicht nur die Knaben sondern auch die Burschen und jungen Krieger erzählen. Sonnenregen bedeutete seinem Freund, dass er stolz auf den zukünftigen Krieger der Oglala –Dakota sein konnte.


Es war ein kleiner Schreibwettbewerb im April 2010 in einer kleinen Gruppe literaturbegeisterter Vielleser, die sich Buchgesichter nannten. Die Geschichte DER EISBLOCK beruht auf einer Episode in der der Harka – Stein mit Hörnern, der Häuptlingssohn, an ein Ereignis in seiner frühen Kindheit denkt. (Die Söhne der Großen Bärin – Band 5 – Heimkehr zu den Dakota)

Uwe Rennicke

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