Kuegler, Dietmar: Der amerikanische Eisenbahnbau (4)

Die „Central Pacific“ hatte, wie erwähnt, gegenüber der „Union Pacific“ einen schwereren Stand, sich an den Regierungsgeldern zu bedienen. Die ersten Jahre waren zweifellos ein Verlustgeschäft für „die Großen Vier“. Das Material für den Bau musste auf Schiffen rings um Kap Horn, bzw. durch die sumpfige Wildnis von Panama zur Pacific-Küste transportiert werden. Stanford hielt sich an anderen Geschäften schadlos. Er gründete eine Lebensversicherung – die noch heute unter dem Namen „Pacific Life“ existiert – und übernahm die nur an der Westküste verkehrende „Southern Pacific Railroad“, die eine sehr profitable Bahnlinie war. Er wurde später auch Direktor der „Occidental and Oriental Steamship Company“, die den Frachtverkehr von San Francisco nach Japan und China bediente und mit der „Central Pacific Railroad“ verbunden war.

Stanford war der Mann, der am 10. Mai 1869 den letzten Schienennagel in Promontory Point einschlug. Er führte die verschiedenen Unternehmungen, die er gegründet hatte, bzw. an denen er beteiligt war bis zu seinem Tod im Juni 1893.

Als das Jahr 1869 anbrach, hatten sich beide Bahngesellschaften noch nicht auf einen Treffpunkt des Schienenweges geeinigt. Tatsächlich bauten sie ihre Gleise wie in einem Rausch aneinander vorbei. Längst hatte der Konkurrenzkampf um die meisten Regierungsprämien und Landschenkungen die Form eines Krieges angenommen. Sabotageakte gegen Materialtransporte, Angriffe auf die Arbeitercamps der jeweils anderen Gesellschaft waren nicht ungewöhnlich. Dann, im April 1869, sprach der neu gewählte Präsident U. S. Grant ein Machtwort, und die Führer der Union und der Central Pacific vereinbarten die Zusammenlegung der Schienen bei Promontory Point, einer kahlen Niederung in der Wüste von Utah. Hier trafen die chinesischen Schienenleger am 30. April ein. Erst eine Woche später rückten die irischen Teams der Union Pacific in Sicht.

Die letzten 800 m sollten bis zum 8. Mai geschlossen werden – aber dazu kam es nicht. Denn die Union Pacific hatte die letzten Lohnzahlungen an ihre Arbeiter nicht angewiesen. Als Thomas Durant, mit seinem Sonderzug Piedmont (Wyoming) passierte, wurde er von seinen Arbeiterkolonnen aufgehalten und auf ein Nebengleis umgeleitet. Er versuchte zwar telegraphisch die Armee zu Hilfe zu rufen – die Telegramme wurden abgefangen. Erst als er die sofortige Auszahlung der fälligen Löhne anwies, durfte er weiterfahren. Das war der Grund, dass die „Hochzeit der Schienen“ erst am 10. Mai 1869 stattfinden konnte.

Gemessen an den Folgen des Ereignisses, war die Zeremonie äußerst bescheiden; denn das abgelegene Promontory Point war für Zuschauer nur schwer zu erreichen. Ganze 600 bis 700 Menschen nahmen teil, die meisten wohl Arbeiter und Angestellte beider Gesellschaften.

Champagnerkorken knallten mit Gewehren und Revolvern um die Wette, als das letzte Stück Gleis gelegt war und die Vertreter beider Gesellschaften, Leland Stanford und Dr. Thomas C. Durant, mit einem versilberten Hammer die letzten Nägel einschlugen.

Es war 12.47 Uhr Ortszeit. Die beiden Loks „Jupiter“ der Central Pacific und „No. 119“ der Union Pacific rollten aufeinander zu und berührten sich. Stanford und Durant, die sich jahrelang bis aufs Messer bekämpft hatten, sanken sich betrunken in die Arme.

Vollendung der ersten transkontinentalen Eisenbahnlinie

Obwohl dieser Augenblick bis heute als die „Golden Spike Zeremonie“ bezeichnet wird, waren es tatsächlich 4 Nägel aus Edelmetall, die in die letzte Schwelle aus Lorbeerholz gesteckt wurden. Zwei goldene Nägel kamen aus Kalifornien, einer war von der Zeitung „San Francisco Newsletter“ gesponsort worden. Dann gab es einen Nagel aus purem Silber, den der Staat Nevada beigesteuert hatte. Der letzte Nagel war aus Eisen, aber versilbert und vergoldet. Er wurde vom Gouverneur des Arizona-Territoriums überreicht.

Von „Einschlagen“ konnte übrigens keine Rede sein. Kein Mensch dachte daran, einen massiv goldenen Nagel in eine Schwelle zu schlagen – er wäre total verformt worden. Also waren zuvor 4 Löcher in die Schwelle gebohrt worden. Die Nägel wurden dann mehr oder weniger eingesteckt und nur noch symbolisch mit einem silbernen Hammer berührt.

Einer der goldenen Schienennägel liegt heute im Museum der Stanford University in Kalifornien. Der zweite Goldnagel und die letzte Schwelle wurden in den Feuern, die dem Erdbeben von San Francisco 1906 folgten, zerstört.

In den Jahren des Baues der transkontinentalen Bahnlinie hatten die Iren und Chinesen um die 6,5 Millionen Schwellen und mehr als 900.000 Schienen gelegt. Nicht zu reden von den unzähligen Tonnen Erde, die bewegt, und von dem Gestein, das aus Felsmassiven gesprengt worden war. Nicht zu reden von den Wäldern, die abgeholzt worden waren, um Brückenkonstruktionen zu errichten, deren Haltbarkeit beim Anblick alter Fotos noch heute fassungslos macht.

Nach der Zeremonie entstanden die berühmten Fotos von der „Hochzeit der Schienen“ – und darauf sieht man nicht einen einzigen Chinesen, obwohl diese Arbeiter vermutlich die größten Opfer für den Bahnbau gebracht hatten. Tatsächlich hatten die verantwortlichen Bauleiter dafür gesorgt, daß die chinesischen Arbeiter nach der Golden-Spike-Zeremonie zur Einnahme ihrer Mahlzeit weggeschickt wurden, bevor der Fotograf seine Plattenkamera aufbaute. Besonders an der Westküste waren Chinesen eine diskriminierte Bevölkerungsminderheit, und sie sollten daher nicht auf dem Bild zu sehen sein, das die Vollendung des großen Bahnbauprojekts dokumentierte.

Erst anlässlich der 50-Jahr-Feier der Golden Spike-Zeremonie im Jahr 1919 wurden 3 der noch lebenden letzten 8 Chinesischen Gleisleger nach Ogden eingeladen, um teilzunehmen.

Der „Wilde Westen“ und das „zivilisierte“ Amerika waren zusammengewachsen. Als die telegraphische Nachricht in Kalifornien und in den Oststaaten eintraf, läuteten in allen großen Städten die Kirchenglocken. Menschen tanzten auf den Straßen. Nur wenige Tage später, am 15. Mai 1869, begann der reguläre Personenverkehr von „Coast to Coast“. Die Reise dauerte acht bis zehn Tage, je nachdem, wie exakt die Fahrpläne eingehalten wurden und wie schnell die Reisenden aus dem Osten in Omaha, dem Beginn der Union Pacific, eintrafen. Die Fahrt blieb für mehrere Jahre ein mehr oder weniger strapaziöses Abenteuer, aber nicht vergleichbar mit der fünfmonatigen Fahrt im Planwagen, die bis dahin Standard gewesen war.

Die eigentliche Bedeutung aber zeigte sich in der sprunghaften Besiedelung des Westens. Die „Hell on Wheels“-Städte, die nach dem Weiterziehen der Arbeitercamps Bestand hatten – wie etwa Cheyenne oder Laramie – wuchsen, wurden Dank der sicheren Transportverbindungen zu Wirtschaftsmetropolen und trieben die Erschließung des Westens voran.

Die Fertigstellung der großen Eisenbahnlinie eröffnete ein neues Zeitalter. Sie bedeutete den endgültigen Durchbruch bei der Eroberung und Beherrschung des Kontinents. Anfangs als utopisches Unternehmen angesehen, wurde die Strecke innerhalb kürzester Zeit zur Alltäglichkeit. In den folgenden 30 Jahren wurden vier weitere transkontinentale Bahnlinien durch den Westen getrieben. Dabei entstand beispielsweise die „Northern Pacific“ unter Leitung des gebürtigen Deutschen Heinrich Hilgard-Villard, der Anleihen des Deutschen Reiches für den Bau besorgte. Die dankbaren Eigentümer der Bahn tauften daraufhin die heutige Staatshauptstadt North-Dakotas „Bismarck“. Abgesichert wurden diese Anleihen mit Landsubventionen der amerikanischen Regierung von 160.000 Quadratkilometern. Diese Linie wurde 1883 fertiggestellt. Schon 1880 war die „Southern Pacific Railroad“ quer durch das Arizona-Territorium gebaut worden und bediente die Südroute durch den Kontinent.

Als 1893 die nordwestlichen Bahnlinien zur „Great Northern“ vereinigt wurde, nahm kaum ein Mensch in den USA davon noch Notiz. Die Eisenbahn war etwas Selbstverständliches geworden. Zu dieser Zeit war vom großen Abenteuer fast nichts mehr geblieben. Der „Far West“ in seiner wilden, gefahrvollen, unberührten Schönheit war untergegangen. Von den Indianern und Bisons, den Rinderherden und Pioniertrecks war nur noch eine Legende geblieben. Die Eigentümer der großen Bahngesellschaften wandelten sich in den Augen der Öffentlichkeit sehr bald zu absoluten Anti-Helden, je mehr ans Licht kam, wie skrupellos sie sich bereichert hatten, wie sie – im Verein mit korrupten Politikern – den Staat geschröpft hatten. Zu dieser Zeit waren längst Baukolonnen überall im Westen unterwegs, um die bereits unsicher gewordenen Schienenwege auszuwechseln: Während des hektischen Vorantreibens der Gleise, um in den Genuß der staatlichen Prämien zu gelangen, waren schwere Konstruktionsfehler gemacht worden, die vielen Reisenden Leben und Gesundheit gekostet hatten. Das Schienenbett war auf weiten Strecken mangelhaft vorbereitet gewesen und inzwischen abgesackt. Die Schwellen waren aus schlechtem, nicht abgelagertem Holz gefertigt worden.

In den 1870er Jahren begann in den westlichen Gebieten ein erbitterter Kampf der Farmer gegen die Ausbeutung durch die Bahngesellschaften. Populistengruppierungen forderten deren Verstaatlichung. So verkam eine zweifellos bedeutende Leistung, die der Eisenbahnbau darstellte und die einst als Segen gefeiert worden war, durch die Machenschaften von Aktienhaien und Spekulanten zu einem Fluch – derartige Extreme liegen in Amerika stets dicht nebeneinander.

Aber trotz der skandalösen Betrügereien, die in der Öffentlichkeit für Wut und Frustration sorgten, war der Siegeszug der Eisenbahn als Verkehrsmittel nicht aufzuhalten. Um 1880 waren in den USA fast 18.000 Frachtzüge und über 22.000 Passagierzüge unterwegs. Die Eisenbahnunternehmen waren neben der Farmwirtschaft die größten Arbeitgeber der USA. Beide Wirtschaftszweige ergänzten einander. Dank der Eisenbahnlinien wuchs die Besiedelung sprunghaft. Besonders im mittleren Westen waren ca. 80% aller Farmen jeweils kaum 5 Meilen von der nächsten Bahnlinie entfernt, die den Kolonisten den gesamten nationalen, aber auch den internationalen Markt für ihre Erzeugnisse öffneten.

Die Eisenbahn beeinflusste faktisch alle Elemente des täglichen Lebens. Ein weiteres Beispiel: Die Tatsache, dass es heute in Amerika mehrere Zeitzonen gibt – insgesamt 9 -, geht ebenfalls auf die Zeit des Eisenbahnbaus zurück. Es ist kaum noch vorstellbar – aber in der frühen Ära der Eisenbahnindustrie, arbeitete faktisch jede große Bahnlinie mit eigenen Uhrzeiten. Auf großen Bahnhöfen hingen mehrere Uhren, die sowohl die örtliche Standardzeit als auch die von den Bahnlinien vorgegebenen Zeiten anzeigten. Es war ein heilloses Chaos, das die Passagiere oft in völlige Verwirrung stürzte. Zu Zeiten der Postkutsche hatte man sich einfach jeweils nach dem Stand der Sonne gerichtet.

1872 hielten die großen Bahngesellschaften eine „General Time Convention“ ab, auf der zur Vereinheitlichung von Fahrplänen auf dem Kontinent die „Standard Railway Time“ eingeführt wurde.

Die Lösung brachte schließlich der kanadische Eisenbahningenieur Sandford Fleming. Er schlug vor, die ganze Welt in 24 gleich große Sektionen aufzuteilen, die von der Sonne in jeweils einer Stunde durchlaufen werden. Auf diese Weise entstanden 24 Zeitsektoren. Die Ortszeiten in jedem Sektor wurden einander angeglichen, so dass in jeder Zone die Uhren einheitlich gestellt waren.

Diese Überlegungen wurden am 18. November 1883 von den Eisenbahngesellschaften in den USA übernommen, so dass 4 hauptsächliche Zeitregionen entstanden – Eastern Time, Central Time, Mountain Time und Pacific Time.

Es gab zunächst erhebliche Kritik an dieser Entscheidung. In den 1880er Jahren wurde die Eisenbahnindustrie zunehmend feindselig gesehen. Zahlreiche Kommentatoren protestierten öffentlich, dass die Eisenbahn jetzt nicht nur die gesamte Wirtschaft und teilweise die Politik beherrschte, sondern sich auch noch zum Herren der Zeit aufschwang.

In der Tat erwies sich diese Regelung als so tiefgreifend, dass die von den Bahngesellschaften festgelegten Zeitzonen letztlich auch per Gesetz von der Regierung übernommen wurden. Sandford Flemings Zeitsystem fand schließlich Anerkennung im ganzen Rest der Welt, und er wurde für seine Überlegung von Queen Victoria in den Adelsstand erhoben. Aber der Grund für die Einteilung in Zeitzonen lag in der Notwendigkeit der Fahrplanangleichung der Eisenbahnen.

Eisenbahnräuberei

Und dann brachte das neue Verkehrsmittel eine neue Art von Kriminalität hervor – nicht die Korruption, die Unterschlagung und den Betrug der Eisenbahnbarone, obwohl man auch dabei eigentlich von „Eisenbahnräuberei“ sprechen kann. Sondern eine neue Variante des Straßenraubs, der in Amerika eine nie gekannte Dimension erreichte.

Die Hoffnung, dass Überfälle auf Züge – im Vergleich mit Postkutschen – wegen der größeren Geschwindigkeit der Bahnen nicht möglich sein würden, erfüllte sich nicht. Wie zu allen Zeiten und überall sind Kriminelle äußerst findig. Sie erkannten die Schwachstellen des neuen Transportwesens sehr schnell.

Schon in England hatte es 1849 und 1855 erste Überfälle auf fahrende Züge gegeben. In den USA allerdings sollte diese Form der Kriminalität auf die Spitze getrieben werden.

1866 eröffneten die Brüder John und Frank Reno und mehrere Kumpane mit einem Überfall auf einen Zug der „Ohio & Mississippi Railway“ ein neues Zeitalter der Straßenräuberei. Die Renos beraubten mindestens 4 Züge im amerikanischen Mittelwesten und erbeuteten bemerkenswerte Summen. Mehrfach gestellt, brachen sie immer wieder aus Gefängnissen aus. 1868 gingen sie den Fahndern im Staat Indiana in eine Falle. Im selben Jahr wurden alle Angehörigen der Reno-Bande von Vigilanten, einer Bürgerwehr, aus ihren Zellen geholt und gelyncht.

Das schreckte Nachahmer nicht ab. Binnen weniger Jahre wurde Eisenbahnräuberei fast alltäglich.

Die Bahngesellschaften setzten schließlich Sicherheitskräfte ein. Die Schaffner waren bewaffnet. Bei Geldtransporten wurden die entsprechenden Waggons speziell gesichert. Die Wells-Fargo Company, die bereits mit Postkutschen Erfahrungen hatte, später auch die bekannte Pinkerton-Detektiv-Agentur, die von den meisten Bahngesellschaften als Begleitschutz angeheuert wurde, ließ Waggons mit Pferden an die Züge hängen, in denen ihre Wachmänner mitfuhren und – falls ein Überfall nicht zu verhindern war – sofort die Verfolgung der Räuber aufnahmen.  Hunderte von Zügen wurden überfallen.

Zu den gefürchtetsten Eisenbahnräubern des 19. Jahrhunderts gehörten die ehemaligen Bürgerkriegsguerillas Jesse und Frank James und die Brüder Younger.

Die Banditen verfolgten mehrere Strategien. Einige von ihnen stiegen als Passagiere in die Züge, übernahmen während der Fahrt die Kontrolle, beraubten die Reisenden, zwangen das Wachpersonal die Tresore in den Frachtwagen zu öffnen und ließen die Züge auf freier Strecke anhalten, wo ihre Kumpane mit den Pferden warteten, um sich schnell zu entfernen.

Sie rissen die Schienen auf und ließen die Züge notfalls entgleisen – unter Inkaufnahme von Toten und Verletzten. Oder sie errichteten Hindernisse auf freier Strecke, zwangen die Lokführer zu Notbremsungen und stürmten die Waggons.

Zwischen 1870 und 1900 verging keine Woche, dass nicht irgendwo im amerikanischen Westen ein Zug ausgeraubt wurde. Die meisten Räuber wurden letztlich gestellt. Nach der James-Younger Gang versetzte die sogenannte „Wild Bunch“ unter Führung von Butch Cassidy und Sundance Kid – deren Geschichte mehrfach verfilmt wurde – die Bahngesellschaften in Angst und Schrecken. Allerdings war, im Gegensatz zur Legende, nichts Wild-Romantisches an diesen Männern. Sie waren gewalttätig, rücksichtslos und ohne Skrupel und trugen ihre Waffen nicht zur Dekoration. Sie töteten und verletzten unzählige Schaffner, Wachmänner und Passagiere.

Filmplakat

Der letzte Eisenbahnraub im Stil des 19. Jahrhunderts in den USA fand am 13. März 1912 in Texas statt. Zwei ehemalige Mitglieder der schon erwähnten Wild Bunch, versuchten den Zug Nr. 9 der „Southern Pacific“ zu übernehmen. Sie nahmen zwei Schaffner und den Geldboten als Geiseln, zwangen den Lokführer, den Zug anzuhalten und verlangten, den Frachtwaggon mit dem Tresor abzuhängen. Der Geldbote schaffte es, sich einen Eispickel zu greifen und erschlug damit einen der Banditen. Dann griff er sich dessen Gewehr und schoßssdem zweiten in den Kopf.

Damit endete die Zeit der Old West Train Robbers.

Mit der Annäherung ans 20. Jahrhundert stand eine Zeitenwende bevor. Die ersten Automobile tauchten auf den amerikanischen Straßen auf – aber noch war das nationale Straßennetz der USA unterentwickelt und sollte erst nach dem 2. Weltkrieg einen stürmischen Ausbau erleben.

1893 kam es in den USA zu einer extrem schweren Wirtschaftskrise, in der auch die Eisenbahngesellschaften hart getroffen wurden. Jetzt zeigte sich, dass manche Regionen viel zu viele Bahngesellschaften hatten, die äußerst fragil finanziert waren. Als die ersten Banken zusammenbrachen, folgten auch einige Bahngesellschaften – und Mitte 1894 lagen über 40.000 Meilen Schienenstrang brach. Zu den angeschlagenen Firmen gehörten nicht nur kleine Unternehmen, sondern auch die Giganten „Northern Pacific“ und „Union Pacific“. Das Resultat dieser Situation war eine mehrere Jahre dauernde Konsolidierung, die 1906 dazu führte, daß zwei Drittel der amerikanischen Eisenbahnen von nur noch 7 großen Investoren kontrolliert wurden, darunter die J. P. Morgan Bank.

Es bildete sich ein Eisenbahntrust, der fast eine Monopolstellung einnahm – sehr zum Ärger des amtierenden Präsidenten Theodore Roosevelt, der alles daransetzte, die Großunternehmen der USA zu zerschlagen und wieder auf Mittelstandsniveau zu bringen. Er konnte die Konzentration der Eisenbahnfirmen aber nicht verhindern. Immerhin wurde die Union Pacific 1904 und 1913 vor dem Obersten Bundesgericht verurteilt, einen Großteil ihrer Aktien von anderen Gesellschaften zu verkaufen, weil sie mit ihrer Dominanz gegen die Anti-Trust-Gesetze verstieß. Aber die Eigentümer der Anteilsmehrheiten fanden Wege, ihre Monopole zu verteidigen. 1916 kontrollierten sie um die 250.000 Meilen Schienenweg.

Auch bei den Zulieferbetrieben kam es zu Konzentrationen. 1901 verschmolzen allein 9 Lokomotivfabriken zur “American Locomotive Company“.

Das Machtkartell der Eisenbahnen wurde nachhaltig erst im Dezember 1917 mit Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg beendet. Präsident Woodrow Wilson ordnete die zeitweilige Verstaatlichung der Eisenbahnen an. Als die staatliche Kontrolle im März 1920 wieder endete und die Bahnen wieder privatisiert wurden, hatte diese Phase allerdings für bedeutende Fortschritte gesorgt – Lokomotiven, Waggons und Schienenwege waren vereinheitlicht worden, was die Unterhaltskosten maßgeblich senkte.

Diese Entwicklung zeigte, daß sich die Politik inzwischen Schritt für Schritt vom Lobbydruck der Eisenbahngesellschaften befreit hatte. Die Macht der Firmen verfiel. Eingesetzt hatte diese Tendenz – wenn auch sehr zögerlich und langsam – schon in den 1870er Jahren mit ersten großen Streiks der Bahnbeschäftigen. Im Juli 1877 gingen Bahnarbeiter in West-Virginia auf die Straße, nachdem ihnen zweimal im Jahr die Löhne gekürzt worden waren.

Es wurde versucht, die Streiks gewaltsam zu unterdrücken. Aber der Widerstand der Arbeiter wuchs. Er breitete sich über Maryland und Pennsylvania nach Illinois und schließlich in allen Mittelwest-Staaten aus. Er dauerte 45 Tage. Weitere Streiks folgten in den 1880er Jahren – etwa bei der „Great Southwestern Railroad“, wo über 200.000 Arbeiter in den Ausstand gingen.

Letztlich setzten die Arbeiter viele ihrer Forderungen durch – sowohl nach höheren Löhnen, als auch nach verschärften Sicherheitsvorschriften für Bahnbeschäftigte und Passagiere, die vom amerikanischen Kongress beschlossen wurden.

Schon 1887 wurden staatliche Inspektoren eingesetzt, die regelmäßig die Sicherheit der Züge und Bahnstrecken überprüften. Das war auch dringend nötig. Bis in die 1880er Jahre gehörten bestimmte Arbeitsplätze bei der Eisenbahn zu den gefährlichsten Jobs überhaupt, nur übertroffen von Minenarbeitern, die unter Tage beschäftigt waren. Vor allem die Bremser – es war damals üblich, das die Bremsen jedes Waggons von Hand bedient wurden – riskierten ständig Leben und Gesundheit.

Auch eine Standardisierung der Ticketpreise wurde vorgeschrieben

Ab etwa 1950 erhielten die noch bestehenden Eisenbahngesellschaften wieder politische Unterstützung, um sie gegen den wachsenden Frachtverkehr auf den Highways konkurrenzfähig zu halten. Auch der Passagierverkehr auf langen Strecken brach regelrecht zugunsten des individuellen Autoverkehrs und der wachsenden Passagierfliegerei ein. Auch in den letzten 30 Jahren verabschiedete der amerikanische Kongress immer wieder Gesetze, die die strikten Kontrollen des Bahnbetriebs lockerten und Deregulierungen im Hinblick auf die Konkurrenzfähigkeit der Eisenbahn zum Ziel hatten.

1966 schuf der amerikanische Kongress die „Federal Railroad Administration“ (FRA), die Sicherheitsstandards und Bewirtschaftung der Eisenbahnen standardisieren sollte. Die Behörde wurde dem Verkehrsministerium zugeordnet. In jenen Jahren gab es weitere Verschmelzungen größerer regionaler Bahnlinien. Vorausgegangen waren die Bankrotte mehrerer Linien, die dann jeweils von größeren Gesellschaften übernommen wurden.

Diese Entwicklungen führten letztlich 1970 und 1971 zur Gründung der AMTRAK unter einem „Rail Passenger Service Act“, um den noch vorhandenen Passagierfernverkehr zu bündeln.

Es handelte sich dabei um eine von der Bundesregierung subventionierte Gesellschaft, deren Aktien sich im Besitz von etwa 20 großen Bahngesellschaften befinden. 53% der Aktien hält die „American Financial Group“. Alle Vorzugsaktien befinden sich als Garantie für die gewährten Subventionen im Besitz der amerikanischen Regierung. Der offizielle Name des Unternehmens lautet „National Railroad Passenger Corporation“. In der Öffentlichkeit heißt die Linie AMTRAK – ein Kunstwort aus „America“ und „Track“ (Schiene).

Eigentlich sollte die AMTRAK den Passagierverkehr „abwickeln“, weil in den 1970er Jahren die Überzeugung vorherrschte, dass der Reiseverkehr auf der Schiene ein sterbendes Modell war. Das hat sich als falsch erwiesen. Die Amtrak macht zur Zeit noch immer über 3 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr. Es handelt sich hier also um eine halbstaatliche Gesellschaft. Die anderen Bahngesellschaften, vor allem die Union Pacific, die die Aktien halten, betreiben neben Frachtdiensten zum Teil ebenfalls noch Passagierdienste auf bestimmten Strecken.

Die Union Pacific, die um die Wende zum 20. Jahrhunderts mehrfach vor dem Bankrott stand, ist heute noch immer die größte Transportgesellschaft der USA, ja der Welt. Sie betreibt ca. 8.500 Lokomotiven und besitzt mehr als 42.000 Meilen Schienenstrang in 23 amerikanischen Bundesstaaten, vorwiegend im Westen der USA. Ihr Hauptquartier ist noch immer – seit 1862 – in Omaha, Nebraska. Ihr jährlicher Umsatz erreicht rund 3,4 Milliarden Dollar, und ihr Aktienwert liegt bei etwa 100 Milliarden Dollar. Damit ist das ehrwürdige Unternehmen einer der wertvollsten Transportdienstleiter weltweit. Möglich wurde das durch konsequente Aufkäufe kleinerer Bahnunternehmen. Als ebenbürtiger Konkurrent steht der Union Pacific nur die BNSF Railway (Burlington Northern Santa Fe Corporation) gegenüber, die sich im Besitz des weltberühmten Investors Warren Buffett befindet. Zusammen beherrschen diese beiden Bahngesellschaften fast das gesamte Frachtgeschäft auf der Schiene in den USA. Die Hauptfracht für amerikanische Züge ist Kohle. Es werden jährlich über 5 Millionen Waggons transportiert.

Andere, leichtere Frachten verlagern sich seit einigen Jahren wieder eher auf die Straße, seit die Benzinpreise in den USA gesunken sind. Gleichwohl versuchen die Bahngesellschaften als moderne und zukunftsweisende Transportmittel Schritt zu halten. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts wurden Pläne einer massiven Entwicklung von Containertransporten und dem entsprechenden Ausbau bestimmter Bahnstationen vorgelegt. Hier war von einem Investitionsvolumen von bis zu 100 Milliarden Dollar die Rede. Zumindest auf verschiedenen Strecken in Kalifornien sind derartige Ausbauten bereits im Gang.

Kommen wir zurück zum Golden Spike-Moment, als Amerika verkehrsmäßig vereinigt wurde.

Schon im Dezember 1869 war Promontory nur noch eine Geisterstadt. Brigham Young, der Führer der Mormonenkirche, übertrug den beiden Bahngesellschaften Land rings um die Stadt Ogden, und die „Central Pacific“ kaufte von der „Union Pacific“ weitere Ländereien und verlegte den Eisenbahnknotenpunkt nach Ogden. Hier entstand der Umsteigebahnhof und blieb es für Jahrzehnte. Da sowohl die „Union“ als auch die „Central“ mit unterschiedlichen Spurbreiten operierten, mußten Reisende durch den Kontinent hier die Züge wechseln. Promontory starb so schnell wie es entstanden war. Es dauerte bis in die 1950er Jahre, bis dieser Platz in der Wüste von Utah, an dem immerhin ein Schlüsselereignis der amerikanischen Geschichte stattgefunden hatte, unter Schutz gestellt wurde. Noch heute sieht man Reste des Original-Gleisbetts, und man kann mit seinem Auto einige Meilen auf dem alten Schienendamm fahren, auf dem die chinesischen Schienenleger ihren Rekord von 10 Meilen am Tag aufgestellt hatten.

Und damit erinnert man sich heute wieder der wahren Helden dieses „größten Unternehmens in der Geschichte der Vereinigten Staaten“, wie Präsident Grant es ausdrückte: der irischen und chinesischen Streckenarbeiter. Sie waren ebenso namenlos geblieben wie die Siedler, die im Schatten der Bahnlinie den Westen kolonisierten. Heute stehen in Promontory, am Golden Spike Monument, Gedenksteine für die Arbeiter.

Die Geschichtsschreibung sieht heute den Bau der transkontinentalen Eisenbahnlinien als eine der größten technischen Leistungen der USA an und stellt sie neben die erste Landung von Menschen auf dem Mond.

Ein Großteil der Eisenbahngeschichte Nordamerikas, die unbestritten gewaltige Pionierleistung bei der Besiedelung des Kontinents ebenso, wie die wirtschaftliche Skrupellosigkeit, ist in der „Romance of the Rails“, in der nostalgisch-romantischen Erinnerung an die Zeit der Dampflokomotiven, versunken. Die heute zu beobachtende Vitalisierung der Frachtzüge ist aber nur noch ein schwacher Abglanz einer Zeit, als die Eisenbahnindustrie gewissermaßen die NASA des 19. Jahrhunderts war.

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Ende.

Kuegler, Dietmar: Der amerikanische Eisenbahnbau (3)

Die unmenschliche Eile hatte handfeste Gründe. Die Regierung hatte beiden Baugesellschaften immense finanzielle Vorteile und Landschenkungen für jede fertiggestellte Meile Schienenstrang als Prämien zugesagt. Je nach Schwierigkeitsgrad des Gebiets, durch das die Schienen gelegt wurden, winkten zinslose Regierungskredite von 16.000 bis 48.000 Dollar pro Meile. Das summierte sich schließlich auf 60 Millionen Dollar. (Gerechterweise muß angefügt werden, dass die Kredite im Laufe der Jahre zurückgezahlt wurden.)

Für die Finanzierung wurden auch Staatsanleihen aufgelegt, die eine Laufzeit von 30 Jahren hatten und mit 6% verzinst wurden.

Die Landprämien sollten letztlich über 8 Millionen Hektar umfassen, deren Wert sich auf fast 100 Millionen Dollar belief. Auch die Bundesstaaten förderten den Eisenbahnbau mit zusätzlichen Landschenkungen.

Je schneller die Schienen vorangetrieben wurden, desto schneller vermehrte sich also der Landreichtum der Central und der Union Pacific. Das in Besitz genommene Land wurde sofort an Siedler verpachtet, für die in Zeitungsanzeigen, mit Plakaten und Broschüren im Osten der USA, aber auch in Europa geworben wurde. Den künftigen Kolonisten wurden goldene Berge versprochen, blühende Felder, üppige Ernten – und natürlich die direkte Anbindung an die Eisenbahn zum Verkauf ihrer Produkte.

Tausende vertrauten darauf. Ihre Träume zerbrachen in den wasserarmen Plainszonen und an den gnadenlos eingetriebenen Pachtraten und Kreditzinsen. Die Bahngesellschaften gründeten Städte auf ihrem eigenen Land, die von und für die Eisenbahn lebten.

Was dem Bahnbau die Bezeichnung „Hölle auf Rädern“ eintrug – eine bis heute populäre Bezeichnung – war der Schwarm von Parasiten, der den Camps der Bauarbeiter folgte: Glücksspieler, Abenteurer, Schnapsverkäufer, leichte Mädchen. Sie knöpften den Männern, die oft 16 Stunden täglich knochenbrechende Arbeit leisteten, ihren sauer verdienten Lohn wieder ab. Im Zeitalter der elektronischen Unterhaltung, Fernsehen, Kino und Internet ist kaum nachzuvollziehen, dass diese Männer ein so großes Bedürfnis nach irgendeiner Form der Unterhaltung und Entspannung hatten, dass sie dafür faktisch alles aufgaben, was sie täglich verdienten. Und das Angebot war auf die erwähnten Möglichkeiten beschränkt.

Railroad construction camp (Southern Pacific, Alfred A. Hart Photograph)

Überall entlang der Bahnstrecken entstanden Zeltstädte, in denen das Leben förmlich explodierte. Central und Union Pacific richteten rollende Saloons ein und rüsteten Bordell-Waggons aus. In den kurzlebigen Camps waren Mord und Totschlag an der Tagesordnung.

Über 3.000 Prostituierte tummelten sich entlang des Schienenstrangs. Der berühmte Journalist Henry M. Stanley schrieb 1867:

„Man fühlt sich an den babylonischen Sittenniedergang erinnert. Die Frauen sind halbnackt und führen Reden, dass einem die Zigarre zwischen den Lippen ausgeht. … Ich habe einen Geistlichen gesehen, der auf einen Tisch stieg, mit einem Revolver in die Decke schoß, die Bildnisse nackter Frauen an den Wänden mit Decken verhängte und eine Predigt hielt, die ich nie wieder vergessen werde. Es war der betrunkenste Priester, den ich je gesehen habe.“

In der Stadt Julesburg (heute Colorado) mitten in der Prärie – nur Zelte und Bretterbuden – reihte sich Saloon an Saloon, Spielhölle an Spielhölle. Es wurde betrogen, gemordet und gestohlen. Bis Jack Casement mit seinen irischen Schienenbauern in das Nest marschierte und eine Treibjagd auf Falschspieler und andere Banditen veranstalten ließ.

Der Bau der großen Eisenbahn war mit einem Aufbruch im ganzen Land verbunden: Das weite, einsame Land im Westen verlor seinen Schrecken. Die Aussicht, bald überall regelmäßige Schienenverbindungen anzutreffen, die zu Lebensadern wurden, ermutigte Zigtausende, eine neue Heimat im Westen zu suchen. Und die vielen kleinen regionalen Bahngesellschaften sammelten erneut Geld von ihren Aktionären, um ihre Strecken an die nationale Linie anzuschließen.

Was die Eisenbahn zu leisten vermochte, war besonders in Kansas eindrucksvoll zu sehen. Der Bahnanschluss ließ gottverlassene Nester wie Abilene, Wichita, Dodge City zu Anlaufstationen der großen Rindertrecks aus Texas werden, was zu einer ungeahnten wirtschaftlichen Blüte sowohl der Viehzüchter als auch der Kansas-Viehhändler führte. Die Bahnlinien transportierten die Rinder dann direkt zu den Schlachthöfen in Chicago.

Nach und nach zog sich ein Spinnennetz von Gleiswegen durch das Land. Technische Kinderkrankheiten, die die Bahnfahrten in der frühen Zeit zur Strapaze gemacht hatten, schwanden. Längst waren die Waggons nicht mehr mit Ketten verbunden, so dass sie bei jedem Stopp aufeinander rasselten, sondern mit Kupplungen. Seit 1865 gab es sogar schon die von Ashbel Welch konstruierte Zentral-Notbremse, und George Westinghouse entwickelte 1869 die Luftdruckbremse und gründete die „Westinghouse Air Brake Company“. In den 1870er Jahren gab es bereits automatische Blocksignale, die zu einer rascheren und zuverlässigen Umstellung von Weichen beitrugen, eine Erhöhung der Geschwindigkeiten und dadurch eine bessere Auslastung des Schienennetzes ermöglichten.

Statt der unbequemen Holzbänke gab es ab den 1860er Jahren gepolsterte Sitze.

Als der Bau der transkontinentalen Eisenbahn in die Endphase ging, rollten längst luxuriöse Pullman Waggons mit Plüsch und Samt und goldenen Türklinken.

Pullmanwagen in den USA, Ende des 19. Jahrhunderts

Die Eisenbahn sorgte nicht nur dafür, dass der stationäre Handel durch schnellere Lieferungen und eine Verbreiterung des Sortiments einen erheblichen Aufschwung erlebte, sie beförderte auch ein erst in seinen Anfängen steckendes Geschäft – den Mail-Order-Handel. Katalogbestellungen – von Mode, Küchenmaschinen, Ackergeräten bis hin zu ganzen Fertighäusern – wurden in den entferntesten Ecken des Landes möglich. Damit begann die „Amazon-Ära“ des 19. Jahrhunderts.

Die Direktoren dieses gewaltigen Unternehmens ließen sich damals in den Medien des Landes als Heroen feiern. Heute sieht die Geschichtsschreibung in ihnen abgrundtief skrupellose Schurken. Die Wahrheit dürfte irgendwo in der Mitte liegen.

Wie bei allen großen Pionierunternehmungen in den USA im 19. Jahrhundert – nehmen wir als Beispiele die Erkundung der westlichen Trails durch den Pelzhandel, den Pony Express, den Bau der Telegrafenlinien, die Gründung von Städten an der Wildnisgrenze – basierte die kollektive Leistung zunächst einmal auf unersättlicher Gier Einzelner, die mit Ideenreichtum, aber auch Rücksichtslosigkeit, Egoismus in erster Linie ihre eigenen Interessen verfolgten und die Gesellschaft um sich herum als Verfügungsmasse ansahen, die sie mit bemerkenswerter Energie und großem Geschick zu steuern vermochten. Reichtum, Einfluss, Macht waren die Säulen, auf denen die meisten Pioniertaten ruhten. Und es waren in der Tat Pioniertaten, aber sie waren nicht aus Menschenliebe, sozialer Verantwortung oder Altruismus entstanden. Das Gesamtwerk verdient zwar Anerkennung, das Resultat war meistens tatsächlich allgemeiner Fortschritt, die Methoden bis dahin waren häufig aber völlig charakterlos und frei von jeder Moral.

Der erste Manager der Union Pacific Railroad war John Adams Dix, der mit seiner Person die enge Verknüpfung von Politik und Eisenbahnindustrie repräsentierte. Dix hatte schon ab 1853 Bahnbauerfahrungen bei der Gründung der „Mississippi & Missouri Railroad“ gesammelt. Als Postmaster von New York City stieg er in die Politik ein und baute von da an ein Netzwerk in Regierung und Verwaltungen auf. Noch kurz vor Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges 1861 wurde er für einige Monate Schatzminister der Bundesregierung. Danach wurde er zum General der neuformierten Unionsarmee ernannt und wurde berühmt, weil er das Parlament des Staates Maryland unter Militärarrest stellen ließ, um zu verhindern, dass dieser Staat sich der Südstaatenkonföderation anschloss. 1863 wurde er von der Regierung Lincoln zum Präsidenten der Union Pacific berufen. Er blieb bis 1868 auf diesem Posten und amtierte nebenbei als Gouverneur von New York und zwischen 1866 und 1869 als amerikanischer Botschafter in Frankreich.

Mit seinen umfangreichen Beziehungen verschaffte er dem Bau der transkontinentalen Eisenbahn alle administrativen Unterstützungen, die nötig waren.

Der eigentliche Motor des Unternehmens aber war sein stellvertretender Direktor, Dr. Thomas Durant, der zwar persönlich die Aktienmehrheit der Union Pacific hielt, aber klug genug war, John Dix mit seinen mächtigen Beziehungen formal den Führungsposten zu überlassen. Aber auch Durant erlangte im Laufe der Zeit exzellente Kontakte in den amerikanischen Kongress. Die Geschichtsschreibung sieht in ihm den typischen „Eisenbahnbaron“, wie man diese Männer bezeichnete.

Thomas Clark Durant, geboren 1820, schuf die finanziellen Strukturen des großen Bahnbauprojekts. Er hatte vorher bereits Eisenbahnlinien im Mittleren Westen gebaut und erwies sich als Genie der Geldbeschaffung für die Union Pacific. Das gewaltige Subventionsgesetz, mit dem den Eisenbahnlinien per Parlamentsbeschluss 1864 Privilegien zuteil wurden, die sie von fast allen gesetzlichen und verfassungsmäßigen Begrenzungen freistellten und die enormen Prämien in Form öffentlicher Ländereien ermöglichten, ging auf seine Initiative zurück. Er wurde mit seiner geschickten Lobby-Arbeit Auslöser eines Skandals, der das Vertrauen in Parlament, Regierung und Eisenbahnindustrie nachhaltig erschütterte.

Das Union-Pacific-Gesetz sah zwar vor, dass niemand mehr als 10% der Aktien halten durfte – aber Durant verschaffte sich über Strohmänner problemlos fast die Hälfte aller Anteile. Er hatte sich immer schon nach dem Prinzip verhalten, dass Gesetze dazu da waren, umgangen zu werden. Während des Bürgerkrieges, als eine Seeblockade und ein Ausfuhrverbot die Südstaaten daran hinderte, Waren zu exportieren, organisierte Durant – obwohl er die Nordstaatenunion unterstützte – den Schmuggel von Baumwolle aus den konföderierten Staaten nach Europa – dabei war ihm ein General der Unionsarmee, Grenville Dodge, behilflich – den er nach dem Ende des Bürgerkrieges als Chefingenieur der „Union Pacific“ anheuerte.

Die Planung der Gleisstrecke erfolgte anfangs durch die Gebiete, in denen Durant große Landstriche billig aufgekauft hatte, so dass die Regierung sie für den Bau der Bahn von ihm erwerben musste. Mehr noch: Er kaufte Anteile an kleineren Bahngesellschaften und streute danach Gerüchte, dass diese mit der Hauptlinie der „Union Pacific“ verbunden werden würden – was den Wert der Aktien sprunghaft in die Höhe trieb. Auf diese Weise machten er und seine Anteilspartner ebenfalls mindestens 5 Millionen Dollar Gewinne.

Neben den bereits erwähnten Kreditzusagen und Landschenkungen, hatte die Regierung die Union Pacific Company mit 100 Millionen Dollar kapitalisiert. Durant schuf ein Geflecht von Baufirmen, die tatsächlich im Besitz der Shareholder der Union Pacific waren, aber formal getrennt operierten und der Bahngesellschaft jede Meile Gleis in Rechnung stellten.

Um das alles zu verschleiern und die Regierungsgelder in „reinigende“ Kanäle zu schleusen, gründete er die „Credit Mobilier of America“.

Die diversen Baufirmen berechneten der Union Pacific massiv überhöhte Leistungen, die über die „Credit Mobilier“ beglichen wurden. Um danach für diese überhöhten Forderungen die entsprechenden Subventionen der Regierung abrufen zu können, wurden mindestens 15 einflussreiche Kongressabgeordnete, Senatoren, der Schatzminister und der Vize-Präsident der USA mit wenigstens 9 Millionen Dollar in bar und Aktien bestochen.

Die durch gefälschte Rechnungen und Bilanzen erzielten Gewinne landeten in den Taschen der Direktoren und der großen Anteilseigner. Das System funktionierte, weil die Direktoren der Union Pacific de facto dieselben waren wie der „Credit Mobilliere“, die überhöhten Rechnungen also von denselben Personen gestellt wurden, die sie am Ende genehmigten und die Zahlung veranlassten. Die Beteiligten empfanden den Betrug als gerechtfertigt, weil sie während der Konstruktionszeit kaum Gewinne aus dem Bahnprojekt ziehen konnten, da ein regelmäßiger Transport von Passagieren und Fracht erst nach Fertigstellung möglich war.

Das verschachtelte Geflecht von Firmen und die Hin- und Hertransferierung von Geld, das von der Regierung gezahlt und vom Parlament genehmigt wurde, war für die damalige Zeit mit außerordentlichem Geschick erdacht und organisiert worden, wie wir es eigentlich erst heute im Computerzeitalter gewöhnt sind. Daher dauerte es bis 1872, bis der Betrug aufflog. Den Beteiligten gelang es, weitgehend straflos zu bleiben, da derartige Praktiken völlig neu waren und keine Gesetze existierten, die sie unter Strafe stellten – mit anderen Worten: Da niemand so etwas vorher getan hatte, war es nicht verboten und somit legal. Erst danach wurden entsprechende Gesetze geschaffen.

Die korrumpierten Politiker hatten sich natürlich strafbar gemacht, aber einige hatten die ihnen zugeschanzten Aktien ihren Ehefrauen übertragen und zahlten schließlich lediglich die erhaltenen Dividenden zurück. Der Vize-Präsident Colfax wurde nicht mehr als Kandidat nominiert.

Die erzielten Gewinne waren bemerkenswert. Der amerikanische Kongress transferierte fast 95 Millionen Dollar an die „Credit Mobiliere“, während die tatsächlich von der „Union Pacific“ benötigten Ausgaben bei weniger als 51 Millionen lagen. Damit wurde ein Gewinn von fast 44 Millionen Dollar erzielt. Um das in heutige Kaufkraft zu übertragen müssen diese Summen mit ca. 30 multipliziert werden, was allein beim Gewinn eine Summe von über 1,3 Milliarden Dollar ergibt.

Auch Durant, der das alles initiiert hatte, blieb straflos. Er verlor lediglich seine Direktorenposten. Er starb 1885.

Sein engster Mitarbeiter war der schon erwähnte Ex-General Grenville Dodge, ein militärischer Ingenieur, der während des Bürgerkrieges als Geheimdienstoffizier des Oberkommandierenden und späteren Präsidenten, U. S. Grant in der Unionsarmee diente. Bei einem der kriegsentscheidenden Feldzüge kommandierte er als Generalmajor das 16. Armeekorps. 1866 wurde er von Thomas Durant als Chefingenieur der Union Pacific angeheuert und war entscheidend für die zügige Fertigstellung der Bahnstrecke bis nach Utah. Dodge war nur indirekt in den von Durant ausgelösten Skandal um die „Credit Mobilliere“ verwickelt – er hatte ein großes Aktienpaket der Bank gekauft und es rechtzeitig vor deren Zusammenbruch abgestoßen. Er entzog sich geschickt der Ermittlung durch den Congress und starb im Januar 1916.

Gen. Grenville M. Dodge

Durants Gegenüber beim Bau der Transkontinentalbahn, der Präsident der „Central Pacific Railroad“, war Leland Stanford, der heutigen Historikern genauso als „Raubritter“ des Eisenbahnzeitalters gilt. Er war – nebenbei – Gründer der bekannten Stanford University in Kalifornien.

Leland Stanford, 1824 geboren, stammte aus New York, studierte Jura und wurde 1848 als Anwalt zugelassen. Er ließ sich zunächst in Wisconsin nieder, wo er in der Republikanischen Partei politisch aktiv wurde. Als die Nachrichten von enormen Goldfunden an der Westküste den amerikanischen Osten erreichten, entschied er sich, nach Kalifornien zu ziehen, wo er mit seinen Brüdern zunächst einen Generalstore eröffnete, den er schließlich zum Großhandel ausweitete. Auch hier engagierte er sich sofort politisch, amtierte zunächst als Friedensrichter, dann als Abgeordneter im Staatsparlament, und 1861 wurde er zum Gouverneur von Kalifornien gewählt. Er behielt dieses Amt für zwei Jahre und wurde dann für 8 Jahre Senator in Washington.

Gleichzeitig trat er 1861 das Amt als Präsident der „Central Pacific Railroad“ an. Stanford war zu dieser Zeit einer der mächtigsten Männer in Kalifornien. Sein Einfluss reichte bis in die entferntesten Ecken des Staates.  Er bildete mit mehreren Geschäftspartnern ein Netzwerk, das im Allgemeinen nur als „Die großen Vier“ (The big four) bekannt war. Dieses Kollektiv nannte sich selbst nur „The Associates“ – man kann hier ohne weiteres von mafiaähnlichen Strukturen sprechen. Dieses Quartett, zu dem Charles Crocker, Mark Hopkins und Collis P. Huntington gehörten – gehörte nicht nur zu den wortmächtigsten Befürwortern einer transkontinentalen Eisenlinie und einer verkehrsmäßigen Anbindung Kaliforniens an den amerikanischen Osten. Diese Männer erkannten auch sofort die geschäftlichen Chancen der Gründung einer eigenen kalifornischen Eisenbahngesellschaft, der „Central Pacific“. Der Plan dazu stammte von dem Ingenieur Theodore Judah. Dem allerdings das Geld für das Unternehmen fehlte. Die „großen Vier“ übernahmen seine Pläne und machten Judah zum Chefingenieur. Stanford übernahm die Leitung der Firma. Judah entwickelte einen Plan für den Bau der Eisenbahn Richtung Osten.

Als das „Union Pacific-Gesetz“ verabschiedet wurde, wurde die „Central Pacific“ beauftragt, von Kalifornien aus die Sierra Madre zu durchqueren und sich mit der Union Pacific an einem noch zu vereinbarenden Punkt zu treffen. Judah führte die Vermessungen durch, legte die Route fest und leitete die Bauarbeiten, die sich weitaus schwieriger gestalteten als im Osten für die „Union Pacific, die von Omaha (Nebraska) aus die Schienen zunächst einmal weit durch flache Prärie und Plains trieb und daher sehr schnell vorankam und daher sofort von den Subventionen der Regierung partizipierte.

Von Januar bis Juli 1861 führte Judah eine Vermessungsexpedition durch die Sierra Nevada und legte eine Route fest, die zwar erhebliche Bearbeitung benötigte, aber tauglich für die Verlegung von Gleisen war.

Judah, der zunächst froh war, dass seine Pläne realisiert wurden, fühlte sich bald abgestoßen von den Geschäftsmethoden der „Großen Vier“. Er reiste an die Ostküste, um hier nach Investoren zu suchen, die es ihm ermöglichen sollten, Stanford und dessen Partner abzufinden und aus der „Central Pacific“ zu verdrängen. Auf dem Weg nach New York infizierte er sich bei der Durchquerung von Panama mit dem Gelben Fieber und starb kurz nach seiner Ankunft am 2. November 1863, bevor er mit der Suche nach möglichen Geldgebern beginnen konnte. Er sollte nicht mehr erleben, wie seine Pläne zu einem Jahrhunderterfolg werden und die Finanziers, von denen er sich getäuscht fühlte, steinreich machen sollten.

Die „Union Pacific“ konnte auf ein großes Reservoir von Arbeitskräften zurückgreifen, als der Bürgerkrieg zu Ende ging und Zigtausende von Soldaten in die Arbeitslosigkeit entlassen wurden. Vor allem eingewanderte Iren stellten ein gewaltiges Potential an Schienen- und Schwellenlegern. Die führenden Ingenieure der „Union Pacific“ waren ehemalige Offiziere und kannten die Leistungskraft der Iren, die durch den Kriegsdienst Disziplin gewöhnt waren.

An der Westküste gab es kein vergleichbares Angebot an Arbeitskräften. Benötigt wurden Männer, die keine hohen Ansprüche stellten, bereit waren, 12 Stunden und länger pro Tag körperlich zu arbeiten, die es gewöhnt waren, Anweisungen zu folgen und sich unterzuordnen.

Die „Central Pacific“ verfiel darauf, Chinesen anzuheuern, die seit dem Goldrausch in großer Zahl in Kalifornien lebten und so ziemlich den niedrigsten sozialen Status hatten.

In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass Leland Stanford sowohl in seinem Wahlkampf für das Gouverneursamt als auch bei der Bewerbung für andere politische Ämter die Ressentiments gegen die chinesische Bevölkerung skrupellos nutzte und in populistischer Weise gegen die Asiaten hetzte. In einer seiner Reden als Gouverneur im Januar 1862 sagte er:

„Meiner Meinung nach ist es klar, dass die Ansiedlung einer inferioren Rasse unter uns mit allen legalen Mitteln verhindert werden sollte. Asien verfügt über ungezählte Millionen von Menschen, und schickt den Abfall seiner Bevölkerung an unsere Küsten. Viele davon sind bereits hier… Es gibt keinen Zweifel, das die Gegenwart dieser niedrigen, unterentwickelten Klasse zu einem gewissen Grad einen schädlichen Einfluss auf die überlegene Rasse hat.“

Stanford wurde für diese Äußerungen bejubelt – bis herauskam, dass er als Präsident der „Central Pacific“ seine Möglichkeiten als Gouverneur nutzte, selbst Tausende von Arbeitskräften aus China anzuwerben und nach Kalifornien zu holen.

Die chinesischen Schienen- und Schwellenleger wurden in den Büchern der „Central Pacific“ als „Material“ geführt. Wie viele von ihnen während der Bauarbeiten ums Leben kamen, insbesondere bei der Konstruktion von Tunneln durch die Berge, wurde nicht gezählt. Sie wurden meist mit 31 Dollar monatlich entlohnt und erhielten ihre Mahlzeiten. Das war ein vergleichsweise guter Lohn in jenen Tagen, aber die Arbeit, die sie zu leisten hatten, ging an die Grenzen der physischen Kraft und war – vor allem bei Sprengungen – lebensgefährlich.

Man kann sich heute im Rückblick moralisch empören – und es gab zweifellos eine ganze Menge Gründe, die Herren der Eisenbahnindustrie als Kriminelle zu bezeichnen. Das stellt aber meines Erachtens eine zu radikale Schwarz-Weiß-Darstellung dar. Vergessen wir nicht: Das 19. Jahrhundert in den USA war eine Zeit des Kolonialismus. Vieles war neu, unbekannt, mit hohen Risiken verbunden – und für sehr viele Vorgänge gab es daher keine Regeln. Menschliche Gesellschaften brauchen aber Regeln, um nicht in Anarchie zu versinken. Aber der Bau der großen Eisenbahnen war im Regelwerk der jungen Vereinigten Staaten nicht vorgesehen. Die Eisenbahnbarone betraten somit faktisch unbekanntes Territorium. Egoismus, hemmungsloses Erobern war Teil der amerikanischen Gesellschaft jener Tage. Es gab nur wenige Regeln, die das Verhalten der Eisenbahngesellschaften bremsten. Sie verfuhren nach dem Prinzip, dass erlaubt ist was nicht verboten ist. Die Finanzierungssysteme, nach denen sie Geld verdienten, waren zu dieser Zeit nicht illegal. Sie wurden von der breiten Bevölkerung als verwerflich empfunden – und dann entstanden entsprechende Gesetze. Aber vorher lagen sie im Bereich des Möglichen. Moral und Anstand mögen sehr erstrebenswerte Prinzipien sein, aber – man muß pragmatisch sagen – dass diese löblichen Eigenschaften nicht zu den Charakterzügen gehören, die bei den meisten Menschen besonders ausgeprägt sind, vor allem dann nicht, wenn sich ihnen die Möglichkeit einer Bereicherung bietet. Dazu bedarf es gesetzlicher Regeln – und die gab es schlichtweg nicht. Das soll das Verhalten der Eisenbahnbarone nicht entschuldigen, aber manches erklären. Hinterher ist man immer schlauer.

Teil 1 / Teil 2 / Teil 3 / Teil 4

Kuegler, Dietmar: Der amerikanische Eisenbahnbau (2)

Dietmar Kuegler 2018

Dietmar Kuegler wurde am 04. Juni 1951 in Dolberg geboren. Als Publizist und Verleger beschäftigte er sich vorwiegend mit nordamerikanischer Geschichte. Bis Ende 2022 gab er das Magazin für Amerikanistik heraus. Kuegler starb am 03. Dezember 2022 in Oevenum auf Föhr.

Kuegler, Dietmar: Chief Iron Tail – Der Lakota – Häuptling von Buffalo Bill´s Wild West – als Beitrag zu Der Weg in die Verbannung (Bärensöhne 3)

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Kuegler, Dietmar: Der amerikanische Eisenbahnbau (1)

Nr. 4 / 2022

Dietmar Kuegler (Kügler) war Publizist und Herausgeber des Magazins für Amerikanistik. Er schrieb über alles, was us-amerikanische Geschichte betraf. Ob über Cowboys, Country Musik, Besiedlung des „Wilden Westens“, über Kriege, den amerikanischen Bürgerkrieg und nicht zuletzt immer wieder über die indigenen Völker Nordamerikas. Die vielen namhaften amerikanischen Autoren machten das Magazin zu einer sehr spannendem lesenswerten, vier mal im Jahr herausgegebenen Zeitschrift.

Leider aber ist das hier abgebildete Magazin das letzte seiner Art, denn Dietmar Kuegler ist im Dezember 2022 plötzlich verstorben und hinterließ eine große trauernde Fangemeinde.

Über eine bekannte Social Media Plattform schrieben wir uns schon einige Zeit, tauschten uns dabei zuletzt über Loretta Lynn und Johnny Cash aus, ausgehend von seinem Büchlein Walk the Line. Da ich gerade über Die Höhle in den Schwarzen Bergen (Bärensöhne 3) recherchierte, „befragte“ ich Dietmar Kuegler über den amerikanischen Eisenbahnbau, worauf er mir den folgenden sehr umfangreichen und interessanten Artikel sendete.

Vor kurzem gestattete mir seine Ehefrau, Karen Kuegler-Rogowski, diesen Artikel hier zu veröffentlichen.

Die Hervorhebungen (im Zusammenhang mit Bärensöhne 3) stammen von mir, ergänzt mit Bildmaterial.

UR (08.03.2023)

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Kath in der Prärie (Kurzgeschichte)

Ein Mädchen auf dem Weg inmitten von Rauhreitern, Scouts und Soldaten in der Prärie. Eine Munitionskolonne soll in das Fort am Niobrara gebracht werden. Dort möchte Kath ihren Vater treffen, einen älterern weißhaarigen Major der US-Armee mit Namen Smith. Mit dabei ist ein Leutnant Roach, der als Verlobter des Mädchens gilt, welches bisher von ihrer Tante Betty, einer wohlhabenden Witwe, erzogen wurden ist.
Die Munitionskolonne wird von einer Dakota-Abteilung überfallen, die ein gewisser Tokei-ihto führt. Die Auseinandersetzungen mit der US-Armee werden häufiger, da inzwischen der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten beendet wurde. Wir befinden uns in der Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, genauer im Jahr 1876, dem Jahr der Indianerschlacht am Litte Bighorn.

Kath trifft auf ein paar Männer, die im Laufe der Geschichte eine Rolle spielen werden. Da ist der Farmerssohn Adam Adamson, der Geld braucht, um das Land seines Vaters vor den großen Grundstücksgesellschaften zu retten, die die Hand nach dem mittleren Westen ausstrecken. Da sind Thomas & Theo, gutmütige Zwillinge, ehemalige Biberjäger, Fallensteller und Cowboys, der etwas weichherzige Tom sowie ein Händler und Schmuggler, der zahnlose Ben. Die alten Grenzer erzählen ihr von ihrem nicht leichten Leben im Grenzland. Erwähnt werden die Goldsucher und auch ein Indianeraufstand in Minnesota im Jahre 1962.

Während des Überfalls übernimmt Kath die Zügel eines Wagens und fährt allein in die Prärie hinaus, bis ein hoch gewachsener schlanker Indianer auf einem Falbhengst vor ihr auftaucht. Kurz darauf kommt es zum Schusswechsel zwischen dem „Roten“ und Bloody Bill, der beim Mord am Vater des Indianers dabei gewesen war. Tokei – ihto geht aus dem Zweikampf siegreich hervor und bringt die junge Frau in die Nähe des Forts, wo Thomas und Theo sie treffen und in das Fort begleiten, bis dort der Ruf ertönt: „Roter reitet an die Station heran!“


Soweit zu der „Indianer“-Geschichte für Kinder, die im Jahre 1956 im Altberliner Verlag Lucie Groszer herausgegeben wurde. Sie befindet sich in Heft 3 der Bären-Lese-Hefte. Auf der letzten Seite befindet sich der Hinweis, dass die weiteren Erlebnisse von Kath im Buch „Die Söhne der großen Bärin“ zu finden ist.

Jedoch findet sich die Geschichte, die im Heft erzählt wird, weder in der Erstausgabe (1951) des erwähnten Romans und auch nicht in der von 1958. Liselotte Welskopf- Henrich hat sie aber später in der dreibändigen (letzter Band) bzw. im im fünften Band Der junge Häuptling der sechsbändigen Ausgabe des Romans aufgenommen.

Liest man dort das Kapitel Cate in der Prärie, sind den Rezipienten der Pentalogie bereits alle Figuren bekannt. Kath/Cate, ihr Vater, Tante Betty und selbst der spätere Leutnant Roach treten erstmals im zweiten Band Der Weg in die Verbannung auf. Kath besucht eine Zirkusvorstellung , in der Harka / Harry, der spätere Tokei – itho und sein Vater Mattotaupa auftraten, es war deren letzte Vorstellung. Sie hat den jungen Häuptling also bereits gesehen, woran sie sich aber nicht erinnern wird.

Im Fort. Szenenbild

Auch die anderen Romanfiguren sind dann schon bekannt. Die wichtigsten sind Adam Adamson und Thomas & Theo. Der alte Adamson war vor Jahren Händler und verkaufte auch Waren einschließlich alter Waffen an Indianer und kaufte zum Beispiel Felle von den Jägern Thomas & Theo. Diese beiden lernte der junge Harka steinhart Nachtauge auf einem Jagdausflug mit seinem Freund Stark wie ein Hirsch kennen. Diese Begebenheiten finden wir im Band 3 – Der Weg in die Verbannung.

Im Film Die Söhne der Großen Bärin hingegen, bringt der junge Häuptling die junge Frau direkt in in das Fort.


Kath in der Prärie ist ein Beispiel dafür, dass Liselotte Welskopf-Hernrich zeitnah nach der Erstveröffentlichung ihres ersten Romans über die „Bärensöhne“ und Tokei – itho in Fragmenten die Vorgeschichte anlegte. Ob die Autorin dabei bereits im Sinn hatte, die Kinder Kath und Harka aufeinandertreffen zu lassen, bleibt unbekannt. Auf jeden Fall gab sie einen Ausblick auf mögliche Fortsetzungen.

Antrag auf Druckgenehmigung des Alberliner Verlages [1]

Der Altberliner Verlag verweist im Jahr 1954 auf die Ergänzung in seinem Druckantrag und betont dabei, dass „die entschlossene Härte der Kampfführung von Seiten der Indianer ihre Ritterlichkeit nicht ausschließt.“

© UR – 23.12.2021

Liselotte Welskopf-Henrich, die Indianer & Antje Babendererde

Antje Babendererde / Foto: Alexander Stertzik

Am 15. September 2021 jährt sich Liselotte Welskopf-Henrichs Geburtstag zum 120. Mal. Zeit, um einen Moment innezuhalten und der Schriftstellerin zu gedenken, die meine persönliche Entwicklung so entscheidend geprägt hat.

Das Leben der nordamerikanischen Indianer (ja, ich verwende den Begriff noch, solange die Indianer selbst es tun …) hat mich interessiert, seit ich lesen kann. Mein Vater ist mit mir durch den Wald gestreift, mein Opa hat mir die ersten Indianerbücher geschenkt. Und ich wollte mehr von allem: mehr Wald, mehr Indianer-Lesestoff.

Also verschlang ich Die Söhne der großen Bärin und mein Interesse an den Ureinwohnern Amerikas war geweckt, der Grundstein für das, was einmal aus mir werden sollte, gelegt.

Nun wollte ich alles über Indianer lesen, und wurde fündig bei James Fenimore Cooper, bei Anna Jürgen und natürlich auch bei Karl May. Für „Winnetou“ quälte ich mich durch einen zerflederten Band in Frakturschrift und die Wahrheit ist: Ich war schlichtweg begeistert.

Mittlerweile, ich war 14, hatte ich sämtliche DEFA-Indianerfilme mit meinem Helden Gojko Mitic gesehen, doch die „Winnetou“-Verfilmungen waren mir bis dahin verwehrt geblieben, da sie im ZDF ausgestrahlt wurden, und wir auf unserem Fernseher mit Holzverkleidung damals nur ARD empfangen konnten.

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Liselotte Welskopf-Henrich, die Indianer & Rudolf Welskopf

Liselotte Welskopf-Henrich – eine erfolgreiche Schriftstellerin und geliebte Mutter

Liselotte Welskopf-Henrich und Rudolf Welskopf

Diese Geschichte beginnt, als ich noch Teenager war. Meine Mutter, Liselotte Welskopf-Henrich, war schon mit den Buch „Die Söhne der großen Bärin“ erfolgreich. Das war aber „nur“ ihr leidenschaftliches Hobby – oder ihr Nebenberuf. Hauptberuflich war sie Altertums­wissenschaftlerin, Dozentin und später Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr Spezialgebiet waren die altgriechischen Stadtstaaten, die Poleis. Sklavenhaltergesellschaften, aber zugleich demokratisch – „natürlich“ nur für die Freien und die Sklavenhalter.

Ich aber war in diesem Alter mehr interessiert an den Abenteuern im wilden Westen. „Die Söhne der großen Bärin“ reichten mir bald nicht mehr als Lektüre, ich griff nach allem, was sich bot. Die „Lederstrumpf“-Romane von Cooper waren selbstverständlich erste Wahl, und dann kam ich auch an die Geschichten von Karl May. Meine Mutter hatte nichts dagegen, besorgte auch den einen oder anderen Band. Sie vertraute darauf, dass ich diese Geschichten schon irgendwie richtig einordnen würde. Der große weiße Held, Old Shatterhand, dem immer alles gelingt, der war für mich nach anfänglicher Faszination denn doch ein paar Nummern zu übertrieben – Beispiel: „Ich packte ihn beim Gürtel und schwang ihn mir einige Male um den Kopf“. Trotzdem las ich weiter, ein Abenteuer reihte sich an das andere, man konnte süchtig werden. Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass darin eben auch das Manko von Karl Mays Werken liegt – eine Aufreihung gekonnt beschriebener Abenteuer, aber keine Entwicklung der Hauptpersonen. Sie kommen so gut oder schlecht heraus, wie sie hineingegangen sind.

Wichtig ist mir gerade heute aber dazu auch die Feststellung, dass Karl May Rassismus fern lag. Kein Volk ist bei ihm besser oder schlechter als andere dargestellt – überall gibt es gute und schlechte Menschen, und – abgesehen von den Superkräften des Old Shatterhand oder Kara ben nemsi – begegnet man sich auf Augenhöhe. An dieser Stelle ist vielleicht ein Anmerkung zum Begriff „Indianer“ angebracht. Völlig klar, dass diese Bezeichnung ein Irrtum der Europäer ist. Allerdings haben sich bis in die 90er Jahre die native americans selbst so bezeichnet. Und in der Zeit, um die es hier in meinen Erinnerungen geht, war die Bezeichnung „Indianer“ absolut gebräuchlich; auch ihre Emanzipationsbewegung nannte und nennt sich „American Indian Movement“.

Für mich war Karl May allerdings der Anlass, meine Mutter überreden zu wollen, noch mehr „Indianerbücher“ zu schreiben. „Da könnte es doch noch viel mehr Abenteuer geben…??“ Im Grunde bedurfte jedoch es gar nicht meiner Überredung. Sie hatte die Rohfassung der ganzen Vorgeschichte der „Söhne“ schon längst in der Schublade! Dabei hatte sie große Mühe gehabt, die „Die Söhne der großen Bärin“ überhaupt erst einmal Anfang der 50er Jahre in der DDR veröffentlichen zu lassen (das klingt heute unglaublich…). Die Nachfrage war immens gewachsen und überstieg das Papierkontingent des kleinen privaten Altberliner Verlages von Lucie Groszer um das Mehrfache. Aber Frau Groszer war mit ihr ins Risiko gegangen, und sie blieben sich treu, solange sie lebten.

Meine Mutter hatte sich mittlerweile habilitiert, und Beruf und Berufung unter einen Hut zu bringen, war immer wieder herausfordernd für Sie. Eine Haushaltshilfe und eine Sekretärin halfen ihr, eine besondere wissenschaftliche und parallel dazu die schriftstellerische Produk­tivi­tät zu erreichen. Und organisieren konnte sie (auch „organisieren“ im DDR-Sprach­gebrauch).

Nun holte sie das Manuskript dieser ersten Bände hervor, die Geschichte des Jungen Harka, der seinem Vater nach einer Intrige des Medizinmannes in die Verbannung folgt und nach vielen Abenteuern den Weg zurück zu seinem Stamm, zu den „Söhnen der großen Bärin“ findet. Ein klassischer Romanaufbau: „top – down – top“, wie man heute sagt. Absatz für Absatz, Seite für Seite arbeitete sie sich nach Jahrzehnten des Entwurfs wieder durch das Manuskript, alles per Hand. Kein Satz, kein Wort blieb ungeprüft. Und ich durfte ihr erster Leser, Zuhörer und Kritiker sein! Halt – ich glaube, den „Kritiker“ muss ich zurücknehmen. Ich war in diesem Alter doch eher der Fan, war fasziniert von ihren Einfällen, von den Wendungen der Geschichte. Tatsächlich passiert im Verlauf der Bände und der Entwicklung Harka-Tokei-ihtos der ganze „wilde Westen“ jener Zeit Revue; Goldsucher, Posträuber, Abenteurer, ehrenhafte und karrieresüchtige Offiziere, Farmer, arme entwurzelte Teufel auf der einen; Indianerstämme und -gruppen im Kampf um ihr Überleben, aber auch untereinander verfeindet, vorübergehend durch Sitting Bull geeint und durch Tashunka Witko „Crazy Horse“ in siegreiche Schlachten geführt, aber letztlich geschlagen und verfolgt, auf der anderen Seite.

© UR – Bärensöhne Stapel

Alle die Bände, die damals entstanden, haben einen stringenten „roten“ Handlungs­faden, alles ist logisch und folgerichtig. Die Schicksale der Akteure sind durch die historischen Ereignisse vorgezeichnet. Aber sie können entscheiden, auf welche Seite sie sich stellen. Sie kommen aus den Konflikten anders heraus, als sie hineingegangen sind. Und übrigens ist es auch historisch belegt, dass eine Gruppe der Lakota dem Gefängnis der Reservation entkam und in Kanada sich ein neues Leben als Rancher aufgebaut hat. Als meine Mutter Ende der 60er Jahre die Möglichkeit hatte, Nordamerika zu bereisen, konnte sie deren Nachfahren besuchen. Aus diesen Eindrücken dieser Reisen entstand die Roman-Pentalogie „Das Blut des Adlers“ mit den Bänden „Nacht über der Prärie“ usw. Aber das ist schon eine andere Geschichte.

Alle diese von ihr verfassten Bücher faszinieren auch heute viele junge und ältere LeserInnen, und das ist gut so – denn es ist wirklich gute Literatur, gut geschriebene Abenteuerliteratur im besten Sinne, historisch und geografisch genau, psychologisch stimmig und voller spannender Konflikte und Kämpfe. Die anschaulichen Landschafts- und Naturbeschreibungen – man denke nur an die ersten Seiten von „Harka“ – auf die sie als sehr naturverbundener Mensch besonderen Wert legte, wusste ich erst später zu würdigen.

Rudolf Welskopf (31.08.2021)

Interview mit Dr. Rudolf Welskopf

Liselotte Welskopf-Henrich, die Indianer & Dr. Uli Otto (1)

Sehr gerne habe ich einer Bitte von Uwe Rennicke entsprochen, meinen persönlichen Beitrag zum Relaunch der Webseite von Liselotte Welskopf-Henrich zu liefern. Diese freundliche Einladung Rennickes fiel dabei mit aktuellen eigenen Bestrebungen zusammen, dem in diesem Jahr anfallenden 120. Geburtstag von Liselotte Welskopf-Henrich (*15.09.1901 München – + 16.06.1979 Garmisch-Partenkirchen) auf irgendeine Weise zu gedenken und dabei auch an die Ersterscheinung von „Die Söhne der Großen Bärin“ zu erinnern, die sich ebenso, aber zum 70 Mal jährt. Dabei kam diesem Projekt des Verfassers auch die zeitweise durch die gegenwärtige Corona-Pandemie erzwungene Isolation entgegen. 

Liselotte Welskopf-Henrich und die Indianer

In ihrem ersten Roman „Die Söhne der Großen Bärin“, welcher die DDR-Autorin auch in der Bundesrepublik bekannt und populär machte,  schildert Liselotte Welskopf-Henrich das letzte vergebliche Aufbäumen der Sioux, die in den 1870er Jahren endgültig von den Armeen der Weißen geschlagen wurden. Der Bärenbande, einer kleinen Gruppe gelingt unter der Führung ihre Häuptlings Tokei-ihto die Flucht aus der Reservation nach Kanada, wo sie zusammen mit einigen ihnen wohlgesonnenen Weißen sowie Freunden anderer Indianer, die ihr Schicksal teilen, eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollen. In fünf später verfassten Bänden schildert Welskopf-Henrich die Vorgeschichte der Protagonisten dieses sechsbändigen Romanzyklus, wobei sie ihre Geschichte Anfang der 1860er Jahre beginnen lässt, als sich die weiße Dominanz und Unersättlichkeit auch im Westen der USA abzuzeichnen beginnt. Den Kampf der Nachfahren der Söhne der Großen Bärin bzw. ihrer in der US-Reservation verbliebener Verwandten 100 Jahre später, das heißt in den 1960er und 1970er Jahren, um ihre Rechte als Bürger einer freien indianischen Nation bzw. um die Einhaltung der von ihnen mit der US-Regierung geschlossenen Verträge hat Liselotte Welskopf-Henrich  sodann in ihrer Pentalogie „Das Blut des Adlers“ – die 5 Bände erschienen erstmals in den Jahren 1966, 1967, 1968, 1972 sowie posthum 1980 – thematisiert. Wie schon „Die Söhne der Großen Bärin“ ist dabei auch „Das Blut des Adlers“ keine bloße Fiktion, sondern beruht ebenfalls weitgehend auf von Welskopf-Henrich genau recherchierten Tatsachen, wenn die Autorin natürlich auch hier ihren „subjektiven Personenkreis“ zu Handlungsträgern gemacht hat.  

Liselotte Welskopf-Henrich zusammen mit Dennis Banks und Vernon Bellacour, zwei Führern des American-Indian Movement (AIM), die sie Anfang der 1970er Jahre zu Hause in Berlin-Treptow besuchten. Kontakt hatte sie aber auch zu Russel Means, den sie anlässlich eines ihrer USA-Besuche ebenfalls kennengelernt hatte.

Liselotte Welskopf-Henrich war dabei keine bloße „Schreibtischgelehrte“, deren Wissen ausschließlich aus Büchern und sonstigen schriftlichen Quellen herrührte, sondern sie führte während ihrer vier USA-sowie Kanada-Besuche zahlreiche Gespräche mit Nachkommen der ehemals aus der USA-amerikanischen Reservation entflohenen Dakota-Oglala-Indianer sowie sonstigen AIM-Aktivisten. Sie weilte längere Zeit in der Pine Ridge Reservation, der ehemaligen Red Cloud Reservation, und nahm regen Anteil an den dortigen Unruhen Anfang der 1970er Jahre. So erfolgte in dieser Zeit auch ihr solidarischer Besuch der widerständigen 89 Native Americans  und deren Anhänger, die vom 20. November 1969 bis zum 11. Juni 1971 aus Protest gegen die Indianerpolitik der USA die vormalige Gefängnisinsel Alcatraz besetzt hielten, bis diese  Aktion seitens des FBI mit Waffengewalt beendet wurde. Außerdem verbrachte sie auch mehrere Wochen in der Hopi- und Navajo-Reservation, um sich mit den Lebensumständen auch deren Bewohner vertraut zu machen. 

Vor diesem Hintergrund und mit diesem Rüstzeug versehen stellte Lieselotte Welskopf Henrich einen großen Teil ihres publizistischen Schaffens engagiert in den Dienst der bis heute immer noch ein oftmals elendes Leben in den USA fristenden Prärieindianer, trat vehement für eine Verbesserung deren Lebensbedingungen ein und focht für ihre politische und ökonomische Emanzipation. 

Kennzeichnend ist bei Welskopf-Henrichs Büchern, dass sie sich dabei bei all ihrer offenkundigen Sympathie für die indigene Bevölkerung der USA keiner Schwarz-Weiß-Malerei schuldig mache und auch jegliche Klischees vermied. Sie selbst schrieb als Geleitwort ihres sechsbändigen Epos: „Gewidmet jenen tapferen Männern, Frauen und Kindern der Dakota-Oglala, die nach vielen Leiden unter den schwierigsten Voraussetzungen ihr neues Leben aufbauen. Es wird mir immer eine Ehre sein, von ihrer Stammesgemeinschaft den Namen ‚Lakota Tashina‘ empfangen zu haben, und ich möchte mich dessen würdig erweisen“.  

Liselotte Welskopf-Henrich, die Indianer & ich

Was meine Person anbelangt, kam ich, seit jeher ein absoluter „Bücherwurm“, erstmals als 10-Jähriger mit Liselotte Welskopf in Berührung, als mir ein Buch mit dem Titel „Die Söhne der Großen Bärin“ in die Hände fiel, dessen bunte Umschlagsillustration den Wanderzug einer Schar von Indianern in voller Kriegsmontur zeigte.

Im Vordergrund war ein kühner Krieger abgebildet, der als Zeichen seiner Häuptlingswürde drei Adlerfedern trug, und dessen Name, wie ich dann bei der Lektüre erfuhr, Tokei-ihto („Geht als Erster voran“) lautete. Diese Buch hatte mein älterer Bruder von unseren Großeltern zur Kommunion geschenkt bekommen, vermutlich auf Empfehlung unserer Großmutter, die zum einen schon vor dem Ersten Weltkrieg Sympathien für die Sozialdemokratie entwickelt hatte und zum anderen als eine begeisterte Karl May-Leserin bekannt war, und dies zu einer Zeit, als May gerade in breiten Kreisen verfemt war. Es folgten dann Tage unaufhörlichen begierigen Lesens, in welchem ich aufregende Einzelheiten des Schicksals des jungen Sioux-Häuptlings und der Flucht der von ihm geführten Bärenbande aus der Reservation am Niobrara hin zum Mini-Sose, dem Missouri und von dort über die kanadische Grenze ins „Land der großen Mutter“ erfuhr. Ermutigend empfand ich damals vor allem den positiven Schluss dieses Buches, entwarf die Autorin hier doch, wie ich es später auszudrücken wusste, das hoffnungsvolle Bild eines Mikrokosmos einer klassenlosen, auf der Solidarität und auf Gleichheit aller Menschen, egal welcher Herkunft, welcher Hautfarbe und Religion, beruhenden Gesellschaft… Obwohl das Buch dann irgendwie verloren ging, hat die Erinnerung an das Schicksal der tapferen Männer, Frauen und Kinder der Bärenbande vom Stamm der Teton-Oglala in den 1870er Jahren mich auch später niemals ganz verlassen. Vielmehr haben mich die „Söhne der Großen Bärin“ weitgehend gegen andere Indianerbücher à la Karl May immunisiert, wo es de facto niemals eigentlich um das Schicksal der Native Americans ging, sondern irgendwelche „deutsche Helden“ die immer wieder gleichen Abenteuer erlebten und ihre Überlegenheit nicht nur über die Indianer sondern auch über Weiße anderer Nationen sowie anderer „Rassen“ unter Beweis stellen konnten. 

Während meines Germanistikstudiums beschäftigte ich mich, der ich inzwischen das Stadium des naiven Lesens natürlich schon altersbedingt längst hinter mir gelassen hatte, Mitte der 1970er Jahre dann zunächst vor allem aus pragmatischen Gründen zur Vorbereitung eines Spezialgebietsthemas für die mündliche Staatsexamensprüfung erneut mit den „Söhnen der Großen Bärin“ („Deutsche Indianerliteratur am Beispiel der Romane von Karl May, Fritz Steuben, Lieselotte Welskopf-Henrich und Herbert Kranz“), da ich mich in diesem Themenbereich bereits einigermaßen auszukennen glaubte.  

Dr. Uli Otto

Mitte der 1980er Jahre machte ich mich sodann erneut an eine, diesmal gründlichere Lektüre des inzwischen um fünf Bände mit der Vorgeschichte der Protagonisten erweiterten Romanzyklus, dies vor allem auch, um für mich selbst herauszufinden, ob meine ursprüngliche Faszination bzgl. der „Söhne der Großen Bärin“ angehalten habe. Außerdem stellte ich damals auch erstmals konkretere Überlegungen darüber an, welche Kinder- und Jugendbücher ich für unsere 1980 und 1982 geborenen Kinder für empfehlenswert fände, wenn sie das passende Lesealter erreicht hätten, war ich doch der Überzeugung, dass kein Medium den Bedürfnissen eines Kindes oder Jugendlichen so sehr entgegenzukommen vermag wie ein gutes Buch, das dem Idealtyp von Literatur nahekommt, die zum einen unterhalten, zum anderen aber auch belehren möchte, wie dies für Liselotte Welskopf-Henrichs Jugendromane in hohem Maß zutrifft. (Siehe hierzu den ersten Titel der am Ende befindlichen Publikationsliste aus dem Jahr 1986).In der Folge habe ich mich in den 1980er Jahren dann außerdem auch nur zu gern der Mühe unterzogen, mir die wichtigsten geschichtlichen Abhandlungen zu den Indianerkriegen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu besorgen, um mich in die Geschichte des Endkampfes der nordamerikanischen Indianer gegen die eindringenden Weißen einzulesen. Dabei ging es mir in erster Linie darum, für mich selber fundiertes Wissen und Sachkompetenz in einem mir bis dahin weitgehend unbekannten Fachgebiet zu gewinnen, um für meine eigenen und eventuell andere interessierte Kinder und Jugendlichen als einigermaßen sachkundiger Gesprächspartner fungieren zu können. Übrigens erfolgte in dieser Zeit auch eine weitere Weichenstellung zur Erarbeitung eines neben der „Liedforschung“ für mich sehr wichtigen Spezialgebietes (Deutsche Auswanderungen sowie Kolonialgeschichte Deutschlands), in das ich mich einarbeiten wollte. In den 1990er Jahren sowie zu Beginn des ersten Jahrzehnts der 2000er Jahre konnte ich in der Folge als freiberuflicher Dozent im Bereich Volkskunde/ Kulturwissenschaften und Germanistik im Rahmen der Vorbereitung verschiedener Seminare („Geschichte der Massenlesestoffe in Deutschland“, „Deutschsprachige Kinder- und Jugendbücher“, „Geschichte der deutschen Abenteuerliteratur für Kinder- und Jugendliche“) mein diesbezügliches Wissen weiter vertiefen und erweitern. Im Jahr 2000 kam es zur Planung eines Buches „Auf den Spuren der Söhne der Großen Bärin.“ Untersuchung zum historischen und kulturgeschichtlichen Hintergrund der Jugendbücher „Die Söhne der Großen Bärin“ von Liselotte Welskopf-Henrich, Regensburg 2001, wobei mir im Vorfeld hierzu klar geworden dass, dass am Untergang der Native Americans der USA zu einem nicht geringen Maß eben auch Auswanderer aus Mitteleuropa, sprich dem heutigen Deutschland, verantwortlich beigetragen hatten, dass dieser Teil der „indianischen Geschichte“ somit eng mit der deutschen Historie verbunden ist. Dabei folgten in den darauffolgenden Jahren mehrere Lexikonartikel in verschiedenen Fachzeitschriften, die diese Sichtweise beinhalteten. (Siehe hierzu die Bibliographie  am Ende unserer Ausführungen). 

Dr. Uli Otto & Till Otto

Dr. Uli Otto ist ein Kulturwissenschaftler aus Regensburg und freiberuflicher Dozent im Bereich Volkskunde und Kulturwissenschaften. Einer seiner Schwerpunkte ist Liedforschung, dies umfasst Volkslieder, historisch-politisches Lied, sowie irische und deutsche Folklore. Außerdem widmete er sich der Erzählforschung, Geschichte der Massenlesestoffe, wozu die „Bärensöhne“ natürlich gehören. Otto begab sich auch „auf die Spuren“ von Herbert Kranz, einem Jugendbuch-Autoren und dessen Reihe Ubique Terrarum, sowie Auf die Spuren des fliegenden Klassenzimmers von Erich Kästner.

Im Teil 2 dieses Beitrages beschäftigt er sich mit der (Kultur)historischen Einordnung von Deutschen und Native Americans, Eckpunkten der (indianisch-nordamerikanischen) Geschichte, die Liselotte Welskopf-Henrich die Grundlage für bestimmte Darstellungen in ihrer Pentalogie sind.

Im dritten Teil wird es seine Einschätzung der Romane von Liselotte Welskopf-Henrich gehen, um Politik gegenüber der indigenen Völker in der heutigen Zeit.

Der Weg in die Verbannung (Bärensöhne 2)

Verschiedene Ausgaben Band II: Der Weg in die Verbannung

Harka ist seinem Vater, dem einstigen Häuptling der Bärenbande, heimlich in die Verbannung gefolgt. Vater und Sohn kämpfen nun in der Prärie und im Dickicht des Waldes ums Überleben. Sie wissen, dass sie nur im Sommer auf sich allein gestellt in der Wildnis existieren können. Für einige Monate suchen sie Schutz in den Städten der Weißen. Sie werden von einem Wanderzirkus aufgenommen. Sie finden Freunde unter den Weißen, lernen ihre Sprache und Schrift. Aber dauerhaft in dieser Welt zu leben ist ihnen unvorstellbar. Ihr Rückweg in die Freiheit der Prärien und Wälder ist mit dramatischen Ereignissen verbunden.

Palisander – Verlag

Die Handlung

Der Rote Jim. Der Leser erwartet nach HARKA zu lesen, wie es mit dem Jungen und seinem verbannten Vater weitergeht. Der Kriegshäuptling Mattotaupa war unter dem Vorwurf, diesem rothaarigen Weißen etwas vom Goldschatz seiner Väter verraten zu haben, verbannt wurden. Der Junge entschloss sich, den Vater zu begleiten.

Nun wird es aber Zeit, dass Liselotte Welskopf-Henrich etwas zu diesem Charaktere verlautbart, der abwechseln Red Jim, der Rote, Red Fox oder Fred Clarke genannt wird. Ungefähr zweiundzwanzig Jahre ist er alt: Waisenjunge, vom Pflegevater verprügelt, Postkutschenräuber, Kundschafter sowohl bei den Nordstaaten als auch den Südstaaten im Bürgerkrieg; obwohl er sich mit Raub über Wasser halten konnte, reich ist er nicht geworden. Gold müsste man finden…

Harka und Mattotaupa in den Bergen. Vater und Sohn müssen sich einrichten. Jagen, Vorräte für den Winter anlegen, Waffen herstellen, Harka lernt unmittelbar von seinem Vater. Dann treffen sie auf eine Gruppe Pani (Pawnee), die vermutlich gehört haben, dass die verhasste Bärenbande bei den Dakota ihren berühmten Anführer verloren hat. Sie wollen sie angreifen. Mattotaupa will das verhindern, um wieder in Ehren aufgenommen zu werden. Harka schleicht sich ins Dorf und warnt die Schwester Uinonah. Der Kampf wird gewonnen, doch weisen ihn die Krieger und Häuptlinge von sich. Alte Antilope, der in Mattotaupas Tipi auch dem Feuerwasser des Red Fox erlegen war, zieht die Rache des ehemaligen Häuptlings auf sich…

Erstmals im Blockhaus. Vater und Sohn entschließen sich, die Welt der weißen Männer kennenzulernen. Bald treffen sie welche, die sie in der Prärie aus einem Sandsturm führen müssen. Harka bekommt einen ersten Eindruck und lernt den Hahnenkampf-Bill und den Indianer Tobias kennen, die noch mehrmals in den Büchern vorkommen. Im Blockhaus am Niobrara treffen sie später wieder auf den Maler Morris und dessen Begleiter Langspeer.

Als der Maler beraubt werden soll, versuchen sie ihm zu helfen, was nicht gelingt, sie verlieren den Kampf. Der Junge macht erstmals Bekanntschaft mit dem Wasserloch im Haus, in das er gestoßen wird und welches einen Zugang zum Fluss ermöglicht. [1]

Doch erst als Red Fox, der wieder versucht hatte, in der Höhle Gold zu finden, ankommt, kommt Mattotaupa frei.
Das ist nicht das Leben, welches sich der Häuptlingssohn vorstellt. So reift der Plan, zu den Siksikau zu reiten und bei diesen „Feinden der Dakota“ die Proben zum Krieger abzulegen, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Vorher will Mattotaupa aber mit eigenen Augen sehen, wo die Weißen wohnen und wie sie leben. Daher ziehen sie mit Weitfliegender Vogel Gelbbart Geheimnisstab und Langspeer sowie Fred Clarke los. Nach Omaha.

Im Zirkus. Die Gruppe um Morris, Langspeer, Fred Clarke und den beiden Indianern besuchen einen Zirkus und der Junge gewinnt einen Showteil, worauf sie gebeten werden, sich dem Zirkus anzuschließen. Harka arbeitet mit dem Clown zusammen, der ihm Karten von den USA zeigt und ihm Schreiben und Lesen beibringt. [2] Im Zirkus tritt eine Gruppe von Indianern (Dakota aus dem Raum Minnesota) und Cowboys auf, geführt von einem Mann namens Buffalo Bill, der Vater und Sohn gern in die Showgruppe einbauen will, die beiden lehnen allerdings die geforderte absolute Unterordnung ab. Harka arbeitet mit dem Clown an einer separaten Nummer.

Während der letzten Vorstellung besucht ein Major Smith der US-Armee mit seiner Tochter Kate die Zirkusvorstellung. Smith erkundigt sich bei der Dakotagruppe nach den Kampf auf der Farm seiner Mutter während des Minnesota-Aufstandes [3], an dem wohl einige der Krieger beteiligt waren. Kate bewundert den Indianerjungen und seine Reiterkunststücke. [4]

Als die Dakota in ihre Heimat zurück wollen, führt Mattotaupa die letzte „Zirkusnummer“, wobei er den sadistischen Inspizienten erschießt. Nun beschließen die beiden „Bärensöhne“ den Weg zu den Siksikau (Blackfeet) einzuschlagen. Die Männer der Dakotagruppe laden Vater und Sohn ein, mit ihnen zu kommen. Doch Mattotaupa lehnt ab mit den Worten: „Wir können nicht mit euch kommen. Ihr seid Dakota.“

Harka hat genug von den Weißen, er möchte zurück zum gewohnten Leben in der Prärie, Mattotaupa allerdings hat erneut zu Alkohol gegriffen. Er bezeichnet den roten Jim als Freund, etwas, was sein Sohn nicht mehr teilt, dem die kriminelle Seite des Red Fox aufgefallen war.

Zum Hintergrund

Liselotte Welskopf Henrich hat ihrem Helden nicht allzu viel Zeit gelassen, in der Wohlbehütetheit des Stammes aufzuwachsen. Der Bruch ist hart und bleibt nun Thema der Folgebände.
Schwerpunkt ist der Aufenthalt der Zirkus und dem Blick in eine neue Welt für den Sohn des ehemalige geachteten Kriegshäuptling. Harka beobachtet die Verhaltensweisen der Watschitschun genau und lernt zu unterscheiden, dass diese sehr unterschiedlich denken und handeln. Der Umgang des Leiters der Indianergruppe mit den Angehörigen dieser schreckt Harka ab, ein weiterer Grund für das Ziel, wieder in die freie Prärie zu freien Gruppen der Prärieindianer zu reiten. Zudem hofft Harka, dass es möglich sein wird, die Unschuld des Vaters gegenüber der Bärenbande zu beweisen.

Welskopf-Henrich bedient sich mit dem Thema Zirkus eines Kunstgriffes. Sie führt eine bekannte Figur der USA-Geschichte ein: Frederick William Cody, genannt Buffalo Bill. (1846 – 1917) Den Namen bekam er, weil er als Jäger und Scout für die Eisenbahnbauer Fleisch beschaffte und dabei eine Unmenge Büffel erlegte. [5] Buffalo Bill selbst ist damit allerdings nicht die Ursache für das spätere Abschlachten riesiger Bisonherden um den Plainsindianern die Existenzgrundlage zu nehmen, was fälschlicherweise oft erklärt wurde.

Zirkus – Plakat (Abb 2)
Buffalo Bill & Tatanka Iyotake (Abb 1)

Jedoch geht Cody zu diesem Zeitpunkt noch nicht der Showtätigkeit nach. Dies ist erst ab den achtziger Jahren der Fall. [6] Zu Beginn war der bekannte Geheimnismann Tatanka-Yotanka (Tatanka Iyotake) eine Zeitlang mit dabei, der hoffte, für die Sioux-Stämme in Washington und beim Büro für indianische Angelegenheiten sprechen zu können. Da dies keine Wirkung zeigte, wandte sich der Hunkpapa- Sioux wieder ab vom Zirkus.

Die Wild West Shows kamen ab 1887 auch nach Europa. Tatanka Iyotake war nicht Teil dieser Shows. [7] Die Shows fanden sowohl auf großen Freigelände, z.B. 1890 auf der Münchener Theresienwiese, also auch in Zirkusmanegen statt. [5]

Liselotte Welskopf Henrich könnte in ihrer Kindheit die „Völkerschauen“ besucht haben, in denen u.a. Angehörige von Völkern aus Afrika und Amerika „vorgestellt“ wurden. Derartige Ausstellungen wurden im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert in verschiedenen Ländern Europas gezeigt. [8] Berühmtheit erlangte mit solchen Darstellungen, die spätestens nach dem ersten Weltkrieg richtigerweise als rassistisch angesehen wurden, zum Beispiel Carl Hagenbeck im Zoo Hamburg. [9] Möglicherweise entwickelte sie hier bereits erste Vorstellungen zu den Lebensumständen indigener Völker, in Teilen beschrieb sie dies in ihrem Text Meine Mutter, die Indianer und ich.

Auf die Wild-West-Show des William Cody dürfte sie nicht gestoßen sein, die letzte in Deutschland fand vermutlich im Jahre 1906 statt. Ab 1913 war das Unternehmen insolvent. Sie erzählte in der Familie aber einmal, dass sie eine Zirkusshow mit Indianern aus Kind oder junges Mädchen besucht hatte.[10] Von den Zirkus-Nummern mit indigenen Artisten berichtete ein anderer Zirkus-Artist, der eine gewisse Berühmtheit erlangte, denn er wohnte in der „Villa Bärenfett“ in Radebeul. Ernst Tobis (1876 – 1959), genannt Patty Frank [11] hatte als Dreizehnjähriger die Show von William Cody in Frankfurt am Main gesehen. Als Artist kam er nach Nordamerika und sammelte indianische Ethnografika. In wirtschaftlicher Not übereignete er seine Sammlung (540 Stücke) an Klara May (die Witwe des bekannten Schriftstellers) und bekam dafür lebenslanges Wohnrecht in Radebeul. Er wurde Verwalter und Museumsführer im 1928 eröffneten Karl-May-Museum[12] . Dort erzählte er von seinen Reisen, vom Zirkus und sicher auch von Buffalo Bill.

Liselotte Welskopf-Henrich, die ihren Karl May gelesen hatte, auch wenn sie gänzlich andere „Indianer-Geschichten“ verfasste, könnt also aus eigenem Erleben und aus diesen Erzählungen die Idee vom Zirkus in Omaha entwickelt haben.

Für die Entwicklung des Dakota-Jungen Harka Steinhart Nachtauge sind die Zirkus – Erfahrungen von hoher Bedeutung. Mit dem Maler Morris und dem vermeintlichen Freund des Vaters, Red Fox, dem der Junge zunehmend misstraut, sowie der Gruppe von Weißen am Niobrara hatte er sehr unterschiedliche weiße Männer kennengelernt. Die Zirkuswelt und die große Stadt Omaha machen ihm klar, was mit der weißen amerikanischen Bevölkerung für eine gewaltige Welle in Richtung Felsengebirge rollt. Einen großen Anteil daran hat auch Old Bob, der Clown, welcher ihm zeigt, dass aus Europa unzählige weitere weiße Frauen und Männer nach Nordamerika kommen. Die Bedeutung von Gold für diese kannte Harka zwar, verstand dies aber erst jetzt, als das Geld hinzukam. Die gefährlichen Anstrengungen, die der Tiger-Dompteur auch mit Hilfe des unerschrockenen „Harry“ (Harka) unternimmt, um weiteren Zirkus-Agenten zu gefallen, verdeutlichen dies nur zu genau.

Doch jetzt dürfen Mattotaupa und Harka noch einmal zurück in die Prärie um das zu sein, was sie sind: Reiter und Büffeljäger.

  • 1) Das Wasserloch zum Niobrara wird im Laufe der folgenden Jahre mehrfach genutzt werden.
  • 2) Inya-he-yukan erzählt 100 Jahre später auf der Reservation Pine Ridge, dass er von einem Zirkusclown Lesen und Schreiben lernte. LWH in „Nacht über der Prärie“ (1. Band der Pentalogie „Das Blut des Adlers)
  • 3) Der Aufstand wird auch als Dakota-Krieg von 1862 bezeichnet. Damit begann eine Kette von Kämpfen zwischen den Sioux und der US-Armee, die letztlich in Wounded Knee ihr Ende fand. https://de.wikipedia.org/wiki/Sioux-Aufstand
  • 4) Major Smith wird Jahre später das Fort am Niobrara führen, wohin auch die nunmehr erwachsene Kate reisen wird. In „Der junge Häuptling“ wird sie wieder auf den „Zirkusjungen“ treffen. Diese Episode wurde in einem Heft mit dem Titel „Kate in der Prärie“ veröffentlicht.
  • 5) vgl. Buffalo Bill – Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Buffalo_Bill
  • 6) Vgl. Dazu Beitrag von Dietmar Kuegler: Chief Iron Tail – Der Büffeljäger und Zirkus-Showman Cody hat sich im Laufe seines Lebens zu einem Freund der Dakota bzw. Lakota gewandelt, die ihn auch später und rückwirkend als Freund betrachteten, der sich dür die Stammensgruppen in den Reservationen einsetzte und gelegentlich auch half.
  • 7) Vgl. Ebenda zu Iron Tail
  • 8) Vgl. Seite „Völkerschau“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 3. April 2021, 10:52 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=V%C3%B6lkerschau&oldid=210503270 (Abgerufen: 5. April 2021, 13:43 UTC)
  • 9) Seite „Carl Hagenbeck“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 19. Januar 2021, 14:52 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Carl_Hagenbeck&oldid=207836792 (Abgerufen: 5. April 2021, 13:45 UTC)
  • 10) Rudolf Welskopf am 06.04.2021
  • 11) Vgl. Karl-May-Wiki https://www.karl-may-wiki.de/index.php/Patty_Frank
  • 12) Vgl. Sächsische Biografien https://saebi.isgv.de/biografie/Patty_Frank_(1876-1959)
  • Abb 1: Von D. F. Barry – Dieses Bild ist unter der digitalen ID cph.3a22279 in der Abteilung für Drucke und Fotografien der US-amerikanischen Library of Congress abrufbar. Diese Markierung zeigt nicht den Urheberrechtsstatus des zugehörigen Werks an. Es ist in jedem Falle zusätzlich eine normale Lizenzvorlage erforderlich. Siehe Commons:Lizenzen für weitere Informationen., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2037885
  • Abb 2: Von Johannes Starcke (Eisenacher Hofbuchhändler) – Zeitungsinserat in der Eisenacher Zeitung, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6062829

© UR (aktualisiert: 07.11.2022)

Dietmar Kuegler: Chief Iron Tail

Der Lakota-Häuptling von Buffalo Bill’s Wild West

Die Zeit des „Wilden Westens“ war noch nicht vorbei, da wurde sie bereits zum Unterhaltungselement. In den Wüsten Arizonas kämpften noch immer Armee und Apachen gegeneinander. In den Weiten Wyomings standen sich Rinder- und Schafzüchter mit schussbereiten Waffen gegenüber. In Oklahoma ritten falkenäugige US Marshals auf der Fährte der letzten Banditen der Pionierzeit. Aber ab Mitte der 1870er Jahre standen einige Protagonisten der Wildnisregionen auf Theaterbühnen des amerikanischen Ostens und führten einem staunenden Publikum Faustrecht und Abenteuer in den Plains und Rocky Mountains vor. Nur wenige Jahre später eröffnete in Nebraska ein Mann ein Showunternehmen, das binnen kurzem zur Weltsensation werden sollte.

Am 17. Mai 1883 zeigte William Cody in der kleinen Stadt North Platte erstmals „Buffalo Bill’s Wild West“. Er dramatisierte das, was er im Laufe seines Lebens gesehen und erlebt hatte und was sich in der Realität noch immer in den westlichen Gebieten Nordamerikas abspielte, als Showspektakel. Der Erfolg war so überwältigend, dass er sich entschloss, ein umfassendes Programm zu entwerfen, dass alle Elemente der amerikanischen Pionierzeit – die zu jener Zeit noch gar nicht abgeschlossen war – enthielt: Goldrausch, Rindertreiben, Indianerkriege, Landnahme, Postkutschenüberfälle. Er heuerte echte Cowboys an, die ihre reiterlichen Fähigkeiten in der Manege vorführten. Er erwarb eine kleine Bisonherde, und er engagierte Indianer von den Reservationen im Nordwesten, die dem Publikum Teile ihrer Kultur demonstrierten. Nach kleinen Tourneen durch Staaten des amerikanischen Ostens und Südens, ging er mit seiner Show nach Kanada, und schließlich brach er nach Europa auf und trug die Interpretation der amerikanischen Besiedelung in die Alte Welt.

* * *

Cody wurde in den Augen eines globalen Publikums zur Personifizierung der amerikanischen Pionierzeit. Der Sohn einer armen Siedlerfamilie, dessen Vater von einem fanatischen Südstaatler erstochen worden war, weil er sich öffentlich gegen die Sklavenhaltung engagiert hatte, war an allem, was die sogenannte „Frontier“ in Nordamerika ausgemacht hatte, beteiligt gewesen. Er war Frachtwagenlenker auf den Trails in die Wildnis gewesen, Pony Express Reiter, Fleischjäger für Eisenbahnbautrupps, Scout der Armee, „Indianerkämpfer“ – kurz, er war ein Abenteurer aus einer anderen Welt, die dem Amerika der Oststaaten ebenso wie den Menschen in Europa so fern war wie ein anderer Planet.

William Cody gilt im Allgemeinen als der Erfinder der „Wild West Show“ und das Jahr 1883 als die Geburt dieser Darstellung. Das zeigt, wie sehr seine Persönlichkeit die öffentliche Meinung dominierte.

Zirkushistorisch gesehen, stimmte das auch, tatsächlich aber war die Präsentation von Ereignissen der amerikanischen Pionierzeit wesentlich älter. Die Regionen westlich des Missouri, die im 19. Jahrhundert eine enorme Anziehungskraft ausübten, faszinierten das bürgerliche Amerika ebenso wie die Alte Welt bereits zu einer Zeit, als es die die „Grenze“ zwischen Zivilisation und Wildnis noch gab.

Schon vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg erschienen abenteuerliche Geschichten von blutrünstigen Indianern und heldenhaften Trappern und Pionieren, von Goldsuchern und Planwagenzügen. Nach Ende des Krieges setzte sich dieser Trend fort. Elemente wie der Eisenbahnbau und die Rindertrails von Texas nach Kansas kamen ebenso hinzu, wie die Geschichten von Bisonjägern, und natürlich von Straßenräubern und Revolvermännern. Es wurden erste Theaterstücke mit diesen Themen geschrieben.

Im Dezember 1869 erschien die Geschichte „Buffalo Bill, King of Border Men“ aus der Feder eines der eifrigsten Autoren dieser Literatur, Ned Buntline. Dessen richtiger Name lautete Ed Judson, und er war eine höchst zwielichtige Person, der allerdings eine Nase für sensationelle Themen hatte. Er war durch den Westen gereist, um „wahre Helden“ zu finden, die er an ein sensationshungriges Publikum im amerikanischen Osten verkaufen konnte.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen, mit Männern wie „Wild Bill“ Hickok und dem bekannten Armeescout Frank North ins Gespräch zu kommen, stieß er auf William Cody, der Buntline nicht ganz ernst nahm, mit ihm ein kurzes Gespräch führte und ihn dann wieder vergaß.

Buntlines Werk über „Buffalo Bill“ wurde ein Sensationserfolg und machte den Mann aus dem Westen mit einem Schlag populär. Als Cody nach langem Zögern endlich in den Osten reiste, um auf Einladung Buntlines öffentlich aufzutreten, wurde er von seiner eigenen Berühmtheit überrascht. Die Eisenbahnstation, auf der er aus dem Zug stieg, wurde von Schaulustigen regelrecht überrannt.

Buntline schrieb 1872 auf der Grundlage seines Buches ein Theaterstück unter dem Titel „The Scouts of the Prairie“ und überredete Cody, mit ihm und „Texas Jack“ Omohundro, einem anderen echten „Westmann“, auf die Bühne zu gehen.

Die Protagonisten mussten nicht viel sagen – allein ihr Erscheinen löste hysterische Massenaufläufe aus.

Sie tourten zwei Jahre lang durch die USA, bis Cody klar wurde, dass Buntline ihn schamlos betrog. Von da an organisierte er seine öffentlichen Auftritte selbst.1877 machte auch Jack Omohundro sich selbständig, und hier und da gab es bereits Freiluftveranstaltungen, in denen Kunstschützen, Lassowerfer und Indianer auftraten. Das alles waren aber eher kleine Unternehmen, die nur regionale Bedeutung hatten. Zweifellos wurde Cody von seinen Erfahrungen auf der Theaterbühne angeregt, die gesamte Pionierzeit darzustellen. Eine Kombination aus Theater, Zirkus und Varieté.

Wer hätte diese Idee glaubwürdiger und spektakulärer vertreten können als er?

Die Männer in der Manege waren echte Cowboys, die auf den endlosen Weiden des Westens gearbeitet und Tausende von knochigen Longhornrindern von Texas bis zu den Bahnstationen in den Ebenen von Kansas getrieben hatten. Die „Deadwood Stage“, die Postkutsche, die während der Show überfallen wurde, war das Original, das tatsächlich auf staubigen Wegen zu den Goldrauschstädten in den Black Hills gefahren war.

Echte Bisons stürmten an den Zuschauern vorbei. Und dann kamen die Indianer: Drahtige, dunkelhäutige Gestalten, die auf dem blanken Rücken ihrer Pferde dahingaloppierten. Majestätisch wehten die großen Federhauben. Ihre gutturalen Schreie ließen die Luft erbeben und jagten dem Publikum Schauer über den Rücken. Einige dieser Männer hattenwirklich noch an blutigen Kämpfen mit den weißen Pionieren und der Armee teilgenommen. Viele von ihnen hatten sogar am Little Bighorn gekämpft, wo sie die 7. US-Kavallerie vernichtet hatten.

Sie waren keine Fantasiegestalten, aber sie kamen aus einer anderen Welt, die von Abenteuer und Romantik verklärt war.

Die Anziehungskraft dieser Vorführungen war unbeschreiblich. Der amerikanische Osten geriet in Aufruhr. In Kanada strömten die Menschen herbei, um den „wahren Wilden Westen“ zu sehen. Und erst in Europa: Ab 1887 tourte Cody mit seiner Show durch die Alte Welt. Acht Tourneen führte Cody bis 1906 durch. Staatsoberhäupter, Könige und sogar der Papst gehörten zu seinem Publikum. Queen Victoria war begeistert von den wilden Männern und Frauen aus dem amerikanischen Westen – während der ersten Englandtour wurden nicht weniger als 2,5 Millionen Eintrittskarten verkauft.

William Cody hatte die Ideen und Visionen, er hatte die Persönlichkeit und das Charisma, das Publikum zu begeistern. Aber er benötigte natürlich Geldgeber, und mit dem Journalisten John Burke aus Arizona hatte er einen genialen Mann für die Öffentlichkeitsarbeit. Plakate, Prospekte, Pressekonferenzen, Sponsoren, Souvenirs – alles, was mithalf, die Show mit den Mitteln der damaligen Zeit zu vermarkten, wurde von Burke geschaffen, der auch völlig neue Promotion-Methoden entwickelte, die zum Vorbild für andere Unternehmen werden sollten. Wer Buffalo Bill’s Wild West untersucht, entdeckt Ursprünge von modernem, bis heute gültigem „Merchandising“, perfekte Medienpromotion, Marketing auf allen Ebenen, Franchising, Markenlizensierung, wobei alle in jener Zeit möglichen Techniken genutzt wurden, bis hin zu frühen Filmaufnahmen.

Erst weltweite Wirtschaftskrisen brachten das Imperium William Codys, zu dem die Show herangewachsen war, ins Wanken. Die teuren Eintrittskarten waren für viele Menschen nicht mehr erschwinglich. Unwetter in den Südstaaten der USA, die viele Pflanzer ruinierten, Krankheiten der Showpferde – wie die berüchtigte „Rotz-Krankheit“ (Malleus), die auf einer Tournee in Frankreich seine Herde vernichtete –, steigende Preise für den Unterhalt der vielen Menschen und Tiere, und nicht zu vergessen der exzentrische Lebensstil Codys wurden zu ernsten Problemen. 1913 war das Unternehmen bankrott.

Bis dahin aber hatte William Cody den Traum von der amerikanischen Pionierzeit in Millionen von Herzen und Köpfen gepflanzt. Die Indianer, die in seiner Show auftraten, hatten der Welt Elemente ihrer Kultur gezeigt und vor allem belegt, dass sie noch existierten, dass sie nicht untergegangen waren.

Bis zum heutigen Tag halten die Völker, die mit Cody arbeiteten, die Erinnerung an ihn in Ehren; denn er erwirkte in zähen Kämpfen mit dem US-Innenministerium Sondergenehmigungen, dass sie ihre Reservationen verlassen durften. Er bezahlte nach damaligen Standards so gut, dass sie ihre Familien daheim versorgen konnten, und er behandelte sie mit Respekt, so dass noch ihre Nachkommen darüber berichteten.

Als Cody starb, trat der Stammesrat der Lakota zusammen und veröffentlichte einen ehrenden Nachruf.

Der Großvater von Ken Woody, dem Chief Ranger des Nationalpark Service am Little Bighorn, war einer dieser Indianer. Ken Woody ist, wie sein Großvater, Mohawk-Indianer. Zwar ritten tatsächlich viele Angehörige von Plains- und Prärievölkern mit „Buffalo Bill’s Wild West“, aber es wurden auch östliche Waldlandindianer engagiert, die mit Plains-Regalia ausgestattet wurden.

Ken Woody berichtete: „Als ich Kind war, fand ich die Ausrüstung meines Großvaters, die er getragen hatte, als er für Buffalo Bill geritten war. Das weckte mein eigenes Interesse an den Plainskulturen. Mein Großvater hatte über diese Zeit nie geredet. Als ich ihn fragte, erzählte er mir von den Tourneen und berichtete, dass diese Zeit zu den besten Erfahrungen seines Lebens gehörte. Cody behandelte die Indianer mit Freundlichkeit, und er hatte einen Angestellten, der sich nur um die indianischen Teilnehmer kümmerte, der dafür sorgte, dass sie mit dem Essen versorgt wurden, das sie sich wünschten, der auf ihre Gesundheit achtete, der die Kontakte zu ihren Familien aufrechterhielt und die Zahlungen an ihre Familien abwickelte.“

Diese Menschen, die bis dahin in ihren abgelegenen Reservationen dem Vergessen anheimgefallen waren, konnten sich der Welt präsentieren, und Europa nahm Anteil. Es wurde ein Interesse am Schicksal der nordamerikanischen Indianer geweckt, das bis heute nicht erloschen ist.

Cody forderte damit die Regierungsbehörden und Indianeragenten heraus, die im ausgehenden 19. Jahrhundert versuchten, die indianischen Kulturen auszumerzen. Sprache, Rituale, Tänze, religiöse Zeremonien – alles, was Ausdruck der eingeborenen Kulturen war, sollte verschwinden. Cody bestärkte die Indianer genau darin, diese Elemente zu erhalten. Er wollte, dass sie in ihrer Sprache redeten, dass sie ihre Tänze zeigten, dass sie über ihre Lebensweise erzählten.

Es gab gar eine regierungsamtliche Ermittlung gegen Cody, weil er die Umerziehung der Indianer behinderte – sie wurde letztlich niedergeschlagen.

Als er am 10. Januar 1917 starb, trat zwei Tage später der Stammesrat der Oglala-Lakota auf Pine Ridge zusammen und schickte dieses Telegramm an Codys Kinder:

„Pine Ridge, South Dakota, 12. Januar 1917

Die Oglala Sioux Indianer von Pine Ridge, South Dakota, die sich zum Rat versammelt haben, drücken im Namen aller Oglalas ihr tiefstes Mitgefühl gegenüber der Ehefrau, den Verwandten und Freunden des verstorbenen William F. Cody für den Verlust aus, den sie erlitten haben. Wir erklären, dass wir Oglala in Buffalo Bill einen warmherzigen und treuen Freund gefunden haben. Unsere Herzen sind schwer vor Trauer wegen seines Dahinscheidens. Uns erleichtert nur der Glaube, dass wir ihn vor Wakan Tanka in den Ewigen Jagdgründen wiedersehen werden.

Chief Jack Red Cloud.“

Wenn die Indianer der Buffalo Bill Show in die Manege galoppierten oder in den Städten, in denen sie gastierten, auf den Straßen paradierten, ritt an ihrer Spitze meistens ein Mann, dessen Erscheinung bei den Zuschauern die blanke Ehrfurcht auslöste.

Eine hochgewachsene, kräftige Gestalt mit einem Gesicht, wie kein Schriftsteller es markanter beschreiben konnte. Er war der fleischgewordene Traum vom edlen Krieger, von allem, was die Vorstellungskraft der Welt beim Gedanken an nordamerikanische Indianer erzeugte.

Sinte Maza, besser bekannt als Iron Tail, war für viele Jahre der unumstrittene Star von „Buffalo Bill’s Wild West“. Er blickte von unzähligen Plakaten. Postkarten mit seinem Portrait waren begehrt. Er repräsentierte den Plainsindianer schlechthin, was letztlich dazu führte, dass über ihn viele übertriebene oder völlig falsche Geschichten im Umlauf waren.

Seine eindrucksvolle Erscheinung korrespondierte mit seinem Charakter und seinem Benehmen. Nicht umsonst sagte William Cody über ihn: „Iron Tail ist ohne jede Einschränkung der beste Mann, den ich kenne.“

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Als Sinte Maza 1842 geboren wurde, waren die Oglala Lakota noch die uneingeschränkten Herren der Great Plains in Regionen, die später Nebraska, South Dakota und Wyoming heißen sollten. Er kam in einem Bisonhaut-Tipi zur Welt. Das Lager seiner Gruppe war in Bewegung. Die Krieger folgten einer Bisonherde. Seine Mutter sah von einem Hügel aus zu, wie die Männer die Herde jagten. Die Schwänze der Bisons standen hoch wie metallene Stangen, als sie in Stampede davonstürmten. Das gab ihr den Gedanken, ihren Sohn „Iron Tail“ zu nennen.

Er wuchs mit den Werten und den Lehren eines indianischen Jungen jener Zeit heran. Aber als er das Alter erreichte, auf den Kriegspfad ziehen zu können, hatte seine Gruppe bereits Frieden mit dem weißen Mann geschlossen.

Menschen, die ihm später begegneten und ihn nach seiner Jugend befragten, erfuhren, dass er keine bemerkenswerten Kriegstaten vorzuweisen hatte. Tatsächlich wurde er von Reportern häufig mit Chief Iron Hail verwechselt – die Namen klangen ähnlich –, der tatsächlich am Little Bighorn gegen die 7. US-Kavallerie kämpfte. Iron Tail war nicht am Little Bighorn, und seine Familie wurde auch nicht – wie einige andere Berichte es behaupteten – am Wounded Knee getötet.

Ein Zeitgenosse, Major Israel McCreight, schrieb über ihn: „Iron Tail war weder ein Kriegshäuptling, noch ein großer Kämpfer. Er war kein Medizinmann oder Schamane, aber er war ein kluger Ratgeber und Diplomat, stets voller Würde und Ruhe, niemals großsprecherisch. Er redete nicht viel und gab nicht viel auf prunkvolle Kleidung; er glich dem berühmten Häuptling Crazy Horse. Immer hatte er ein Lächeln auf den Lippen und liebte Kinder, Pferde und Freunde.“ (McCreight, The Wigwam: Puffs from the Peace Pipe. 1943.)

Seit den 1890er Jahren ritt Iron Tail mit „Buffalo Bill“ Cody. Er wurde neben Annie Oakley, der legendären Kunstschützin, zur absoluten Attraktion der Show und blieb bei Cody bis 1913, als das Unternehmen aufgelöst werden musste.

Danach wurde er von der „101 Real Wild West“-Show in Ponca City (Oklahoma) angeheuert.

Iron Tail war bereits ein internationaler Star, als er von dem Künstler James Earle Fraser als einer von drei Indianern ausgesucht wurde, für das Portrait auf der Rückseite einer neuen 5-Cents-Münze Modell zu stehen, für den sogenannten „Buffalo Nickel“ (auf der Vorderseite war ein Bison abgebildet).

Wo immer Iron Tail auftrat, beeindruckte er durch seine natürliche Souveränität und Würde. Er stand neben William Cody vor Staatspräsidenten und gekrönten Häuptern in Europa. Cody nahm ihn mit zu Jagdausflügen.

Aber natürlich war es sein markantes Aussehen, dass stark zu seinem Ruhm und seiner Ausnahmestellung beitrug, und es war eine bemerkenswerte Frau, die das öffentliche Bild von Iron Tail prägte. Im April 1898 besuchte die Fotografien Gertrude Käsebier den Auftritt Codys in New York. Zuvor hatte sie schon die Parade der Mitwirkenden auf der 5th Avenue gesehen.

Gertrude Käsebier gehörte zu den ersten in ganz Amerika bekannten Fotografinnen, als dieser Beruf immer noch männlich geprägt war. Sie war im Westen am Rande der Großen Ebenen aufgewachsen, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Indianerdörfern.

Käsebier nahm Kontakt mit William Cody auf und erhielt von ihm die Genehmigung, die Indianer seiner Truppe zu fotografieren. Da sie den Umgang mit Indianern gewöhnt war, hatte sie keine Probleme, von ihnen akzeptiert zu werden. Sie nahm diese Fotos nicht aus geschäftlichen Gründen auf. Ihr ging es nur um Ästhetik. Keines ihrer Fotos erschien jemals im Druck der Werbebroschüren der Show.

Iron Tail wurde ihr Lieblingsmotiv – denn der Lakota erschien zu den Aufnahmen ohne irgendwelche Showkleidung. Er war einfach er selbst, ließ sich aber schließlich überreden, seine Federhaube aufzusetzen. Gertrude Käsebier war begeistert von der Bescheidenheit des Auftretens, weil Iron Tail damit genau das demonstrierte, was sie fotografieren wollte – Natürlichkeit und Ursprünglichkeit. 1901 erschien eines ihrer Iron-Tail-Portraits auf dem Titelblatt des „Everybody’s Magazine“. Er wurde als Vertreter einer neuen Generation Indianer gefeiert, traditionell und zugleich der modernen Zeit zugewandt, stark und stolz.

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Iron Tail war 74 Jahre alt, als er mit der „101 Wild West Show“ im amerikanischen Osten unterwegs war. William Cody trat ebenfalls als Angestellter der Show auf.

Im Mai 1916, als die „101 Ranch“ in Philadelphia (Pennsylvania) gastierte, erkrankte Iron Tail an Lungenentzündung. Er wurde ins St. Lukes Hospital der Stadt eingeliefert. Cody war gezwungen, seinen Freund zurückzulassen, da er einige Tage später in Baltimore auftreten musste. Einer von Codys Freunden, der auch mit Iron Tail befreundete Colonel McCreight in DuBois (Pennsylvania) erfuhr von der Erkrankung Iron Tails und telegrafierte an das Krankenhaus, den Chief zu ihm zu transportieren, wo er gepflegt werden sollte.

Das Telegramm erreichte nie sein Ziel. Stattdessen wurde Iron Tail in einen Zug gesetzt, der ihn nach Hause in die Black Hills bringen sollte.

Am Morgen des 28. Mai 1916 fand der Schaffner den alten Häuptling tot in seinem Schlafwagenabteil vor, als der Zug in South Bend (Indiana) hielt. Sein Leichnam wurde weiter in die Pine Ridge Reservation befördert. Hier wurde er am 3. Juni 1915 auf dem Friedhof der Holy Rosary Mission beerdigt.

Als William Cody vom Tod Iron Tails erfuhr, versprach er, für einen Grabstein zu sorgen. Aber dazu kam es nicht mehr – nur sechs Monate später starb auch „Buffalo Bill“ Cody in Denver.

So kam es, dass das Grab von Iron Tail keinen Stein erhielt – und es ist seither nicht mehr auffindbar.

  • Mit freundlicher Genehmigung von Dietmar Kügler.
  • aus Magazin für Amerikanistik – Zeitschrift für amerikanische Geschichte Heft 4 / 2018 und Heft 1 / 2019.
  • Bilder oben aus Heft 1/2019
  • Bild unten rechts: Montage U.R.

Quellen

  • Armstrong, Craven, et al., 200 Years of American Sculpture. 1976.
  • Augherton, Tom, Chief Iron Tail: Buffalo Bill Codys Lakota Ambassador was Immortalized in Nickel. In: True West, December 2014.
  • Barbara L. Michaels, Gertrude Käsebier, The Photographer and Her Photographs. 1992.
  • Delaney, Michelle, Buffalo Bill’s Wild West Warriors: A Photographic History by Gertrude Käsebier. Smithsonian, 2007.
  • Freundlich, A.L.The Sculptures of James Earle Fraser. 2001.
  • McCreight, Major (1943), The Wigwam: Puffs from the Peace Pipe. 1943.
  • Richard Green, I Dream of the Elk: Iron Tail’s Muslin dance shield. In “Whispering Wind”, March–April, 2009
  • Wilson, R. L./Greg Martin, Buffalo Bill’s Wild West: An American Legend. 1998.
  • Woody, Ken, Chief Ranger Little Bighorn Battlefield. Persönliches Gespräch, Juni 2014.
  • Prof. Dr. Ken Tankersley (Cherokee), berichtete über das Verhältnis zwischen William Cody und den Indianern. Er wies mich als erster auf den Stammesratsbeschluss der Oglala-Lakota nach Codys Tod hin. Eine Kopie des Original-Dokuments befindet sich im „Buffalo Bill Museum“ auf Lookout Mountain in Golden, Colorado, neben Codys Grab. Persönl. Gespräch im Juli 2006.
  • Bei mehreren Besuchen auf dem Friedhof der Holy Rosary Mission konnte ich das Grab von Iron Tail trotz intensiver Suche nicht mehr lokalisieren. Es ist auch in den Friedhofspapieren, die ich im „Museum of the Fur Trade“ in Chadron (Nebraska) einsehen konnte, nicht mehr gelistet. Vermutlich wurde es irgendwann eingeebnet, weil keine Angehörigen mehr vorhanden waren.