Großeltern erzählen Märchen. Ein indianisches Märchen erzählt Untschida, das Großmüttcherchen, den Kindern Mattotaupas in Die Söhne der Großen Bärin. Mehrfach wird die Geschichte im Roman erwähnt. Ähnliches kommt in Das Blut des Adlers vor. Liselotte Welskopf- Henrich hat das Märchen erstmals 1952 in einem separaten Kinderbuch erzählt. Kindergeschichten erfand sie für ihren Sohn Rudolf, der dies in einem Interview erwähnte. Jahre später erst verwendete sie den Stoff wieder, wenn es um die Kinder der Familien , die sie beschrieb, ging.
„In uralter Zeit lebte in Amerika das Indianermädchen Hiladih. Hiladih ist ein schöner Name, er bedeutet ‚reine Quelle‘. Hiladih wohnte mit ihren zehn Brüdern in einem tiefen Wald. Des Morgens früh, wenn die Sonne aufging, badete Hiladih im klaren Bach, und die Drossel sang ein Lied dazu. Auf der Wiese am Bach stand das Mädchen und flocht ihr schwarzes Haar in zwei lange Zöpfe.“
LWH – Der Steinknabe – Seite 6
So beginnt das Märchen in dem schmalen, bunt bebilderten Kinderbuch des Eulenspiegel-Kinderbuchverlages. Eines Tages sind die zehn Brüder des Mädchens verschwunden. Hiladih sucht sie und findet schon ziemlich verzagt einen schönen bunten Kiesel am Bachufer. Diesen nimmt sie mit, drückt ihn an ihr Herz und so wurde aus ihm „Steinknabe“. Steinknabe findet als er älter wird auch die zehn Brüder wieder. Nun stellt der Bursche fest, dass er unverwundbar ist und so wird die Jagd sein ein und alles.
„Der Wolf konnte ihn nicht beißen. Mato, der Bär, hatte zwar starke Tatzen mit großen Krallen und vermochte einen Mann niederzuschlagen, aber dem Steinknaben konnte er nichts anhaben. Wenn der Büffel Tatanka den Steinknaben auf die Hörner nahm und durch die Luft auf den Boden warf, so lachte der Steinknabe nur und stand wieder auf. Steinknabe wurde immer übermütiger, weil kein Tier ihn besiegen konnte. Er tötete nicht nur die Tiere, deren Fleisch er mit seiner Mutter und seinen Onkeln zum Essen brauchte. Er tötete alle Tiere, die er im Wald und auf den Wiesen fand.“
LWH – Der Steinknabe – Seite 14
Doch die Tiere, die ja nach dem Glauben der Indianer auch eine Seele haben, verbünden sich gegen den unerbittlichen Jäger, der am Ende das wird was er ist: Ein STEINKNABE.
Eine ähnliche Geschichte erzählt Zitkala-Ša in Roter Vogel erzählt. [1] Im Kinderbuch ist die Figur des Steinknaben negativ besetzt. Eine einsame Frau spricht viele Gebete zum Volk der Wakan (Geheimnis). Sie hatte in ihrer Hütte einen schwarzen Stein zum Messerschärfen und Felle gerben. Eines Tages war der Stein fort. An seiner Stelle lag in Baby auf einem Luchsfell.
Der Junge wurde ein guter Jäger, der schon oft die Mutter von deren vier Brüdern erzählen hörte. Mit fünfzehn Jahren machte sich der Steinknabe auf den Weg um sie zu suchen. Auf dem Weg begegnet er einem Grizzly, einem alten Großvater ohne Beine. Der Steinknabe nimmt die Beine des getöteten Grizzly und bindet sie an die Stümpfe des Großvater, in der Schwitzhütte wird daraus ein Wesen, halb Mensch halb Bär. So entstehen die Braunbären. Der Knabe findet eine Frau, verwandelt einen bösen wakan-Mann in einen Fisch und kehrt mit der Familie wieder zu seiner Mutter zurück. Die vier Brüder hatten gehört, dass der Steinknabe zum Vater einer großen Nation werden würde, dies wollten sie unterstützen. Und so kämpften sie gegen Schwärme von Fliegen und Mücken und besiegten diese. [2] Als das Volk gewachsen und stark war, fanden sie von ihm nur noch einen schwarzen Stein.
Zitkala-Ša (Roter Vogel) die als Gertie Eveline Felker bereits 1876 in einer Reservation geboren wurde, erzählt damit einer der Entstehungsmythen der Sioux-Nation. Den Stoff nahm Welskopf-Henrich in einer für uns märchengerechter und gewöhnter Form auf. Es ist nicht bekannt, ob sie die Geschichten der Dakota Zitkala-Ša kannte, sicher ist, dass sie Geschehnisse, die George Catlin (1796 – 1872) in Sitten, Gebräuche und Lebensumstände der nordamerikanischen Indianer bereits 1842 beschrieben hatte, verwendete. Da ihre Bibliothek im Zuge der Bombardierungen Berlins am Ende des 2. Weltkrieges vernichtet wurde, ist es nur schwer möglich, auf tatsächlich verwendete Quellen zu schließen. [3] Nicht nur die Texte Catlins aus dem 19, Jahrhundert, auch die heute zugänglichen wie die von Zitkala-Ša zeugen im Nachhinein von der großen Informiertheit der Schriftstellerin über ihr „Nebenfach“. Als Dozentin und dann Professorin für Alte Geschichte, sind ihr aber intensives und zielgerichtetes Quellenstudium geläufig gewesen.
Fabeln handeln meist von Tieren mit menschlichen Eigenschaften, die auch menschlich handeln. Hier könnte von einer Fabel gesprochen werden, denn die Tiere verbünden sich menschlich gegen einen Menschen. Oder von einem Märchen über eine wundersame Begebenheit (die Verwandlung aus/in einen Stein) in mündlicher Überlieferung. Durch die fehlende Schriftsprache der Sioux kommt diesen Überlieferungen eine wirklich hohe Bedeutung zu. Daher sind sie aus einer Beschreibung oder Erzählung zur Kultur eines indigenen Volkes nicht wegzudenken. Angehörige der Uramerikaner begannen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, Mythen, Legenden und Märchen aufzuschreiben. Zu diesen zählt John Okute Sica, geboren 1890, den Liselotte Welskopf-Henrich auf einer ihrer ersten Reisen nach Nordamerika kennenlernte und von dem sie ein Manuskript [4] mit derartigen Aufzeichnungen erhielt.
Der alte Lakota schrieb und bestätigte damit das Bild der Autorin, die sich bis dahin zum Beispiel an Catlin orientierte.
„Die Sioux betrachten den Büffel als heiliges Tier. Bei der Jagd beten sie, sie danken dem Großen Geheimnis für die Jagdbeute. Außer dem Blut und dem Mageninhalt wurde nichts weggeworfen. Jede Unze Öl wurde aus den Knochen geschmolzen, und sämtliche Innereien wurden als Nahrung oder für andere Zwecke verwendet. Ein Sioux tötete einen Büffel nur dann, wenn er oder seine Stammesgenossen ihn benötigten.“
Okute Sica: Das Wunder vom Little Bighorn, Seite 189
Die Geschichte vom Steinknaben ist damit auch eine Lehrgeschichte für „Indianerkinder“ wie sie Liselotte Welskopf-Henrich später in Harka – Sohn des Häuptlings beschrieb. Das Kinderbuch entstand bereits 1952. Natürlich verwendete die Autorin diese wieder, später auch in den Bänden der Pentalogie Das Blut des Adlers. Doch sind die Romane der Autorin, die im besten Sinne historische Romane sind, keine Sammlung von Märchen und Legenden. Daher „mussten“ diese eher kurz erwähnt und dann ausgelagert werden.
- [1] Zitkala-Ša: Roter Vogel erzählt – die Geschichten einer Dakota / Palisander-Verlag Chemnitz 2015 / ISBN: 978-3-938305-70-6
- [2] Die Insektenschwäre stehen für angreifende Stämme
- [3] Quelle: Rudolf Welskopf
- [4] Das Manuskript wurde Jahrzehnte später von Frank Elstner übersetzt. die Rechte dazu erhielt er von den Nachfahren des indianischen Schriftstellers. Okute Sica, John: Das Wunder vom Little Bighorn / Palisander-Verlag / Chemnitz 2009 / ISBN: 978-3-938305-10-2
- DNB / Eulenspiegel Kinderbuchverlag / Berlin 2011 / ISBN: 978-3-359-02337-1 / 36 Seiten
© UR (29.11.2020)
Hallo liebe Macher*innen dieser Website ! Zum Lesestoff dieser Seite kann ich nur sagen: Danke !!!
Die Bücher von L.W.-H.haben mich in den 70er Jahren durch meine DDR-Kindheit hindurch stark geprägt. Jetzt fand ich zufällig nach 45 Jahren „Stein mit Hörnern-Texasbronco“ in einem Bücherschrank in Hannover und las es noch mal. Dabei war sofort die alte vertraute Faszination und Spannung wieder da. Was für eine wunderbare Schriftstellerin, sage ich auch noch heute als studierte Deutschlehrerin mit Literaturanalyse-Routine.
Es wäre wirklich gut, wenn Sie nicht in Vergessenheit gerät. Aus heutiger Sicht hätte ich mir als Frau einen stärkeren Einbezug Queenie Kings als weibliche Leitfigur für Mädchen gewünscht. Man fragt sich, wann und wie sie ihre Bilder gemalt hat. Sie scheint sich ja ausschließlich um ihren Mann zu sorgen. Er hat sein Tipi, wo ist ihr Atelier? Als stark Kunstinteressierte wäre die Welt der modernen indianischen Kunst ein gutes ergänzendes Thema zu den männlichen Kulten für mich und sicher auch andere Mädchen gewesen. So identifierte ich mich als Kind natürlich mit Harka und Joe King, was mit dem Frau-Werden nicht mehr funktionierte, bzw. später meine Sicht auf die „Indianer“ desillusionierte. Aber das gehört wohl zum Erwachsenwerden dazu !-)
Interessant ist die Affinität zu Eva Lips. Ihr „Sie alle heißen Indianer“ eröffnete mir damals die kulturelle Vielfalt der Indigenen Nordamerikas auf hervorragende kindgerechte Weise. Auch so ein Kultbuch…
Nochmal danke !!!!
Alles Gute, K. Heinrich
Vielen lieben Dank für diesen ausführlichen Kommentar, liebe Kornelia Heinrich. Der Lestoff dieser Seite ist noch lange nicht erschöpft, auch wenn es er eher unregelmäßig erweitert wird. Die ausführlichen Buchbesprechungen zum „Blut des Adlers“ müssen auch noch eine Weile warten. Ihr Problem betreffend Queenie Tashina King sehe ich aber so: Einerseits, war Queenie ja ein wenig zerrissen, so zwischen Kunstschule, ihren traditionellen Eltern und Joe Stonehorn King. Sie ist Bindeglied zur Welt der Weißen, zu einer ausgewählten, eben der Malerei, so wie Joe zur Welt der Gangs. Queenies Haltung zieht sich bis zu ihrem Tod durch alle Bände. Was ihre Bilder betrifft, hat sie diese nicht auf der King Ranch gemalt, sondern in der Kunstschule und, glaube ich, in der Reservationsschule. Immer dann, wenn sie von ihrem Mann getrennt war. Zum Beispiel, wenn der gerade mal wieder im Gefängnis saß.Hätte Queenie zwanzig Jahre später gelebt, dann hätte sie vielleicht eine solche Rolle haben können, wie Sie sich hier gewünscht haben.
Liebe Grüße und lesen Sie hier weiter mit.
Uwe Rennicke